Mindener Tageblatt ,
31.01.2005 :
Es gab kein Todesurteil - aber viel Unrecht / Schaumburger Nazi-Justiz "nicht der Hort des Bösen" / "Erbgesundheitsgericht" im Stillen / Vortrag in Bückeburg
Von Stefan Lyrath
Bückeburg (Ly). Die Schaumburger Justiz war während der Nazi-Zeit "nicht der Hort des Bösen". Zu diesem Schluss kommt Friedrich von Oertzen, Präsident des Bückeburger Landgerichts.
"Hier ging es etwas moderater zu als in anderen Bereichen", fasste von Oertzen nach einem Vortrag von Dr. Stefan Brüdermann zusammen. Brüdermann, stellvertretender Leiter des niedersächsischen Staatsarchivs Bückeburg, hatte im Rahmenprogramm der Wanderausstellung "Justiz im Nationalsozialismus" (wir berichteten) über die Rolle der Schaumburger Gerichte referiert.
Sein Fazit: NS-Recht nicht umzusetzen, hätte den einzelnen Richter ins KZ geführt. "Das Streben nach Gerechtigkeit fand seinen Ausdruck darin, dass man, so gut es eben ging, auch vor Nazis nicht halt machte und diese verurteilte."
Ein Beispiel: Im Januar 1935 überfallen SS-Leute in Stadthagen drei Juden, verprügeln ein Opfer bis zur Bewusstlosigkeit. Einer der Täter wird zunächst inhaftiert, fünf Tage danach aber offenbar auf Drängen hoher SS-Führer und nach Weisung des Celler Generalstaatsanwalts wieder freigelassen.
Der Bückeburger Staatsanwalt Wilke beklagt später, dass sich darüber in der Bevölkerung "ein gewisses Gefühl der Rechtsunsicherheit" ausbreite. Am Ende werden gegen alle Schläger Geldstrafen von jeweils 100 Reichsmark verhängt - milde Sanktionen, aber wenigstens wird die Schuld festgestellt.
Im Vergleich mögen Schaumburger Richter während der zwölfjährigen Terror-Herrschaft moderater gewesen sein als die Masse der deutschen Juristen. In den Akten über Entnazifizierung, so Archivar und Historiker Dr. Brüdermann, gebe es aber "nicht einen Hinweis" darauf, "dass jemand Gewissensprobleme mit der seinem Handeln zugrunde gelegten Gesetzesbasis hatte", etwa dem "Blutschutzgesetz", das unter anderem Ehen zwischen Juden und "Ariern" verbot. Der Referent: "Gesetz und Gewissen konnten auch in der NS-Zeit miteinander vereinbart werden."
Seit Juli 1933 hat die NS-Gerichtsbarkeit ein ganz neues Arbeitsfeld, das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses". Schwachsinnige, psychisch Kranke, ja sogar Blinde und Alkoholiker können sterilisiert werden, "wenn zu erwarten ist, dass Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden".
Für Schaumburg-Lippe wird in Bückeburg ein "Erbgesundheitsgericht" gebildet. Die Bevölkerung soll davon möglichst wenig wissen. So dürfen per Erlass keine Briefumschläge mit dem Aufdruck "Das Erbgesundheitsgericht" in Umlauf kommen.
Nachdem Amtsärzte alles vorbereitet haben, ist das Erscheinen der "Erbkranken", die zuvor "genügend Gelegenheit zum Gehör" hätten, bei Gericht "in den meisten Fällen nicht erforderlich". Schließlich herrscht auf den Fluren Publikumsverkehr.
In den Jahren 1934 und 1935 werden in Bückeburg 43 Sterilisationen beschlossen, zwischen 1941 und 1944 sind es noch 21. Im letzten Kriegsjahr stellt man das Verfahren praktisch ein. Die Ärzte müssen sich auf den "totalen Kriegseinsatz" konzentrieren.
War Schaumburg besser als der Ruf der Nazi-Justiz? Viele Quellen sind dürftig. Todesurteile soll es nicht gegeben haben.
"Aber Zwangsarbeiter etwa, die sich mit deutschen Frauen eingelassen haben, hingen am nächsten Baum", gibt Wilfried Knauer zu bedenken. Den Leiter der NS-Gedenkstätte Wolfenbüttel wundert, dass solche Fälle "aus Schaumburg nicht überliefert" seien.
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