Neue Westfälische ,
31.01.2005 :
Leben heißt kämpfen ... / Zum 60. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz - Vlothoer Schicksale wurden in Briefen lebendig
Von Ralf Bittner
Herford. Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau von der Roten Armee befreit. Rund 1,5 Millionen Menschen wurden im größten Vernichtungslager umgebracht, der größte Teil davon Juden und Roma. 60 Jahre später erinnerten die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Herford und das Kuratorium Erinnern, Forschen und Gedenken in einer gemeinsamen Veranstaltung an die insgesamt mehr als sechs Millionen Ermordeter.
"Wie können wir heute das Unfassabare begreifbar machen?", fragte Jutta Heckmanns vom Kuratorium. "1,5 Millionen ist eine Zahl", sagte Pastor Dr. Wolfgang Otto von der Gesellschaft Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. "Jede Zahl ist ein Name, jeder Name ist ein Mensch."
Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand eine Lesung der Vlothoer Mendel-Grundmann-Gesellschaft aus den Briefen der jüdischen Familie Loeb. An Hand von rund 150 Briefen und Postkarten lässt sich stellvertretend für viele andere Juden der Leidensweg im Dritten Reich nachzeichnen. 2003 erschien die Briefsammlung unter dem Titel "Wir wollen weiterleben ... Das Schicksal der jüdischen Familie Loeb - dokumentiert in Briefen und Selbstzeugnissen". Einen Großteil der Korrespondenz macht der Schriftwechsel zwischen dem in die USA ausgewanderten Sohn Hans Loeb und der in Reich zurückgebliebenen Familie aus, ergänzt um Briefwechsel zwischen den Eltern und der seit 1939 in Berlin lebenden Schwester Marianne.
Die Briefe dokumentieren den Zeitraum von 1938 bis 1943. 1938 geht Hans Loeb als 22-Jähriger nach Amerika. In Europa droht wegen der Sudetenfrage Krieg. Wie viele Juden hat Gustav Loeb im Ersten Weltkrieg gedient, fühlt sich als Bürger des Deutschen Reiches und wäre auch bereit, noch einmal ins Feld zu ziehen. "Vielleicht kann man mich ( ... ) doch irgendwie verwenden." Selbst in einer Zeit als die Loebs ihr Geschäft verkaufen müssen und versuchen, eine Bürgschaft für die Ausreise in die USA zusammenzukommen und immer deutlicher werdender antisemitischer Politik in Deutschland, ist die Auswanderung ein Schritt, den sie wenn es geht, vermeiden wollen. Noch drei Tage zuvor hatte Gustav Loeb geschrieben: "Gestattet man uns das Hierbleiben unter erträglichen Verhältnissen, dann würden wir das Bündel nicht schnüren."
Im November ziehen die Loebs nach Hannover, nachdem am Morgen des 10. November das Geschäft in Vlotho von SA-Männern verwüstet wurde. Am 13 November schreibt Helene Loeb: "Vati ist verreist ... Es fuhren sehr viele Bekannte mit." Und: "Vielleicht wäre es ebenso richtig, wenn wir mit Dir zusammenziehen würden." So erfährt der Sohn, dass Vater Gustav mit anderen Juden aus Vlotho verschleppt worden ist und sich die ganze Familie mit den Gedanken der Auswanderung trägt. Die Zensur zwingt zu einer verschlüsselten Sprache, so bleiben einige Ereignisse - etwa der Kriegsausbruch - unerwähnt.
1941 bringt die Wende zum Schlimmeren
Während 1940 für die Loebs ein relativ ruhiges Jahr ist, nimmt ihr Schicksal 1941 eine Wende zum Schlimmeren. Im Juni schließen die USA alle Konsulate in Deutschland und machen damit jede Hoffnung auf eine baldige Ausreise zunichte. Am 1. August stirbt Tochter Marianne überraschend an Scharlach. Im Herbst müssen die in Hannover lebenden Loebs in ein Judenhaus ziehen. "Wir wollen weiterleben" und "Leben heißt kämpfen", schreiben sie an ihren Sohn. Sie setzen nun ihre Hoffnung auf eine Ausreise über Kuba. Ein von SS-Chef Heinrich Himmler erlassenes Ausreiseverbot für Juden macht sie zu Gefangenen in ihrem Heimatland, das zielstrebig ihre Vernichtung vorbereitet. "Die Vlothoer Familien haben durchweg nicht rechtzeitig gerüstet", heißt es im Brief als sie ihre Lage erkennen. Die drohende Deportation lässt sich aus dem Brief vom 10. November 1941 herauslesen: "Gegenwärtig steht ein anderes Land im Mittelpunkt, das als Reiseziel in Frage kommt."
Am 15. Dezember ist die Familie unter den ersten aus dem Reich in den Osten deportierten Juden. Das erste Ziel hieß Riga. Keiner kam zurück.
Der überlebende Sohn Stephen Hans Loeb suchte früh den Kontakt zu seiner Heimatstadt Vlotho, deren Ehrenbürger er seit 1991 ist. Seine Briefe und Reden sind vom Gedanken der Verständigung, Versöhnung und Toleranz geprägt.
lok-red.herford@neue-westfaelische.de
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