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Lippische Landes-Zeitung , 31.01.2005 :

Der Würde beraubt / Martin Doerry schildert das Schicksal seiner Großmutter Lilly Jahn

Detmold (Nv). Eine integre, gebildete und assimilierte deutsche Jüdin wird Stück für Stück ihrer Würde beraubt, bis sie unter ungeklärten Umständen 1944 im Konzentrationslager Auschwitz umkommt. Das bewegende Schicksal seiner 1900 geborenen Mutter Lilly Jahn hat Martin Doerry im "Mein verwundetes Herz" aufgezeichnet. Am Freitagabend gab es einen riesigen Andrang auf den Sitzungssaal des Rathauses, wo der Autor Passagen daraus vortrug.

Martin Doerry ist stellvertretender Chefredakteur des "Spiegel" und beruflich entsprechend beansprucht. Wenn er trotzdem zur Lesung innerhalb der Gedenkveranstaltungen für die Opfer des Nationalsozialismus nach Detmold kam, so wegen des beeindruckenden Gesamtprogramms ("Das macht nicht jede Stadt!") und der Hartnäckigkeit der Referentin Petra Schröder-Heidrich.

Nach dem 2. Weltkrieg wurde in der Familie von Lilly Jahn nie über deren Schicksal gesprochen - ein Tabu, wie es oft bei traumatisierten Menschen anzutreffen ist. Erst um 1990, als die Zeitzeugen rarer wurden und die jüngeren Generationen unbelastet an das Thema der Judenvernichtung heran gehen konnten, wurde in der bei Kassel gelegenen Region die Erinnerung wach. Sie löste eine letztendlich nicht mehr aufzuhaltende, interne Diskussion aus. Doerry, von der Ausbildung her Historiker, nahm sich der ab 1998 aufgetauchten rund 600 Briefe an und überzeugte seine vorerst skeptisch argumentierenden Verwandten, dass die Geschichte von Lilly Jahn nicht in privaten Unterlagen verschwinden dürfe. Inzwischen hat sich das Buch, so Albert Lange vom mit veranstaltenden Buchhaus Kafka & Co., zu einem Bestseller mit 18 Übersetzungen entwickelt. Mit Spannung wird die Herausgabe in Israel erwartet.

Nachrichten über einige tausend Tote übersteigen gemeinhin das menschliche Vorstellungsvermögen. Doch nimmt man ein Einzelschicksal heraus, so stellt sich ein nachvollziehbares und damit bewegendes Bild einer intensiv mit einander verbundenen Familie dar, in der Liebe gegen Terror und Barbarei gesetzt wird. Sehr behutsam hat Martin Doerry seine Auswahl aus den ihm vorliegenden Dokumenten getroffen und bleibt auch gegenüber dem Verhalten, des arischen Großvaters, der sich 1942 der so genannten Mischehe durch Scheidung entzog, von Fairness geprägt. Offen bleibt, ob der Vater der gemeinsamen vier Kinder jemals um die Rettung seiner der Nazi-Willkür schutzlos ausgelieferten Frau gekämpft hat. Ihr ist in Straflager und Zwangsarbeit nur die unendliche Zuneigung ihrer Kinder geblieben, bis sie ein Jahr, bevor die amerikanischen Truppen als Befreier auftauchen, im Konzentrationslager Auschwitz zu Tode kommt.


detmold@lz-online.de

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