Lippische Landes-Zeitung ,
31.01.2005 :
Erinnerung um der Zukunft willen / Die Cellistin des Auschwitzer Lagerorchesters in Detmold
Detmold (te). "Ich spiele Cello." Weshalb sie das gesagt hat, weiß sie nicht. Aber es rettete Anita Lasker-Wallfisch das Leben. Ihr Können brachte sie in das Lagerorchester von Auschwitz, sie entging der Gaskammer. Heute gehört sie zu denjenigen, die Zeugnis geben - um die Erinnerung zu erhalten. Vor allem aber, um die Zukunft vor dem schützen zu helfen, was sie erleben musste.
Deshalb sitzt die 79-Jährige an diesem Samstagnachmittag in der Neuen Aula des Grabbe-Gymnasiums und liest aus ihren Lebenserinnerungen, die den Titel "Ihr sollt die Wahrheit erben" tragen. Sie berichtet in sachlichem Stil von der Kindheit in einem völlig assimilierten deutsch-jüdischen Elternhaus in Breslau. Doch die Welt herum verändert sich, Hass, Schikanen und Diskriminierung führen in die Dunkelheit.
Sie spricht ruhig über den Tag, an dem die Eltern deportiert werden. Nur wenig bricht ihre Stimme, als sie von deren Ermordung bei Lublin erzählt. Nun sind die Schwestern Renate und Anita Lasker allein. Sie fälschen Urlaubsscheine für französische Zwangsarbeiter und werden schließlich bei einem Fluchtversuch festgenommen. Aberwitzigerweise erweisen sich die dafür verhängten Haftstrafen als Vorteil, denn so fallen sie nicht sofort wieder der Gestapo in die Hände.
Dennoch führt beide der Weg nach Auschwitz. Durch die Mitgliedschaft im Lagerorchester kann Anita auch ihre Schwester vor dem Tod bewahren.
Schüler bekamen Vorzug vor der Queen
"Ich hatte das Gefühl, im Lager mehr Freiheit zu haben, als im Zuchthaus. Aber das war eine Illusion. Tatsächlich war es unwiderruflich eine Falle. Der einzige Weg hinaus führte durch den Schornstein", sagt sie und beschreibt: "Es gab eine Art von Leben in diesem Lager." Gemeint ist damit, dass selbst dort, in der Hölle auf Erden, die Insassen eine Routine entwickelten, und die Kapelle probte, während bis zu 24.000 Menschen am Tag ermordet wurden.
Für die Schwestern gibt es einen zweiten Weg aus Auschwitz heraus, der aber in die nächste Hölle führt - Bergen-Belsen. Doch sie überleben, weil sie sich gegenseitig unterstützen.
Während ihrer mehr als einstündigen Lesung bleibt Anita Lasker-Wallfisch ihrem Stil treu. "Ich vermeide es mit Absicht, zu sehr in Details einzugehen. Es ist nicht so wichtig, sich mit den Grausamkeiten zu beschäftigen, sondern mit der Zukunft", sagt sie. Damit sich Völkermord und Rassenhass nicht wiederholen.
Erinnerung und (Vor)Sorge, das ist ihr Auftrag an die, die vor ihr sitzen. Und deshalb bezieht sie klar zur aktuellen Diskussion Stellung. "Ich finde, man sollte es den Neo-Nazis verbieten, in Berlin herumzuspazieren." Der Beifall nach Ende der Lesung drückt den tiefen Respekt des Publikums vor dieser außergewöhnlichen Frau aus.
Ihre Persönlichkeit hat die Schüler des Leistungskurses Geschichte und Lehrerin Eva Lettermann schon bei einer Begegnung in Berlin im Juni 2004 stark beeindruckt. Es entwickelte sich ein Briefwechsel, der mit dem Versprechen der in London lebenden Cellistin endete, Detmold zu besuchen. Sie gab den Schülern sogar den Vorzug vor einer Einladung der Queen, die später eintraf.
Der Leistungskurs hat in einer Internet-Dokumentation und einer Ausstellung ihr Leben aufgearbeitet und dafür den 2. Preis in einem Wettbewerb der Adenauer-Stiftung erhalten. Anita Lasker-Wallfisch ist von der Arbeit sehr beeindruckt. "Schade, dass es nicht der erste Preis geworden ist", sagt sie.
www.lasker-wallfisch-projekt.de.vu
detmold@lz-online.de
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