Neue Westfälische ,
29.01.2005 :
Zeitzeugen berichten vom Kriegsende
Rettung aus eisigen Fluten / Der Bielefelder Manfred Dittrich war Rudergänger auf dem Torpedoboot, das der "Gustloff" zu Hilfe kam
Von Anja Sparbrod
Bielefeld. Manfred Dittrich erinnert sich noch gut an jenen kalten Januartag vor 60 Jahren. "Wir lagen mit unserem Torpedoboot T 36 im Hafen von Gotenhafen", erzählt der 78-jährige Bielefelder. "Die Vorbereitungen zum Auslaufen waren getroffen, um 16 Uhr kam der Einsatzbefehl." T 36 sollte eigentlich den Kreuzer "Admiral Hipper" begleiten. Doch nur wenige Stunden später wurde das Torpedoboot zur letzten Hoffnung für die Flüchtlinge der sinkenden "Wilhelm Gustloff" und Manfred Dittrich zum Augenzeugen der schwersten Schiffskatastrophe aller Zeiten.
"Der Wind blies fast von vorn und hatte aufgefrischt", erinnert sich Dittrich an jene Nacht. Plötzlich sei der Funker auf der Brücke erschienen und habe dem Wachoffizier gemeldet, dass auf der internationalen Welle SOS-Rute zu hören seien - Hilferufe des Flüchtlingsschiffes "Wilhelm Gustloff ". "Der letzte Funkspruch lautete: Bin torpediert - habe drei Torpedotreffer - sinken schnell - 6.000 Menschen an Bord - Panik ausgebrochen", so Dittrich.
"Von Torpedoboot T 36 an Gustloff - haltet aus - wir kommen", gibt der Bielefelder den dann folgenden Funkspruch seines Torpedobootes wieder. Der damals 18-Jährige war Rudergänger und stand auf der Brücke. Von hier aus konnte er das sinkende Schiff gut sehen. "Ein schauriger Anblick", sagt er. Hunderte von Lampen, wie sie sonst nur bei Bordfesten eingeschaltet wurden, tauchten die Gustloff in strahlendes Licht. Später Gerettete berichteten, dass sich die Festbeleuchtung durch einen Kurzschluss selbsttätig eingeschaltet hatte.
"Die ganze Wasserfläche war aufgewühlt von tausenden um ihr Leben kämpfenden Menschen", erzählt Dittrich. "Viele versuchten, zu einem der wenigen Rettungsboote zu schwimmen. Wer eines erreichte, wurde von anderen weggedrückt. Frauen schrieen nach ihren Kindern. Viele konnten nicht schwimmen und hielten sich an anderen fest, dabei zogen sie die unter Wasser. Die meisten hatten nicht mal eine Schwimmweste an", beschreibt der Bielefelder die dramatischen Szenen.
Die gesamte Mannschaft habe auf dem Oberdeck gestanden, um so viele Menschen wie möglich an Land zu ziehen. Mit Strickleitern ließen sich die Matrosen hinab, um die verzweifelten, erfrierenden Menschen aus dem Wasser ziehen zu können. Wer in Sicherheit war, wurde sofort in Decken oder dicke Militärmäntel gehüllt und unter Deck gebracht. "In der ersten halben Stunde waren schon weit über hundert Menschen dem Tod entrissen", so Dittrich.
Mitten in die Rettungsaktion sei plötzlich die Meldung des Unterwasserhorchers geplatzt: "Habe Echo aus 230 Grad. Wahrscheinlich U-Boot. Entfernung 600 Meter". Laufend wurde der Kurs korrigiert. "Der Bug unseres Bootes sollte immer in Richtung des U-Booteszeigen, um einen Angriff zu erschweren", erläutert der damalige Rudergänger. Der Kommandant behielt die Nerven. Auf Zuruf seines Unterwasserhorchers änderte der schnell den Kurs, der erste Torpedo des U-Bootes verfehlte T 36 um 30 Meter, der zweite zog etwa 20 Meter an den Deutschen vorbei. "Es wurde höchste Zeit, die Rettungsaktion endgültig abzubrechen, wenn wir nicht T 36 mit den Geretteten aufs Spiel setzen wollten", erzählt Dittrich. Doch wie schwer muss es seinem Kommandanten gefallen sein, wo er doch vielleicht noch so viele Menschen hätte retten können. 564 Männer, Frauen und Kinder hatte das Torpedoboot den eisigen Fluten der Ostsee entrissen. "Nachdem der letzte Angriff des U-Bootes abgewehrt worden war, nahmen wir Kurs auf Sassnitz auf Rügen", berichtet der Bielefelder. An Bord sei dann sogar noch ein Kind geboren worden.
T 36 sank, nachdem es auf eine Mine gelaufen war
In den frühen Morgenstunden traf T 36 mit einer stolzen, aber erschöpften Mannschaft auf Rügen ein. "Ein Lazarettzug stand bereit, die Schiffbrüchigen zu übernehmen", erzählt Dittrich. Die Nationalsozialisten hätten die Besatzung dann in Swinemünde geehrt.
Das Torpedoboot T 36 sank am 4. Mai 1945, nachdem es auf eine Mine gelaufen war. "Ein Räumboot hat uns aufgenommen und nach Kopenhagen gebracht", sagt Dittrich. Als der Krieg vorbei war, kam der gebürtige Dresdner auf Umwegen 1950 nach Bielefeld. Hier arbeitete er 40 Jahre als Schaffner bei den Stadtwerken. Immer noch fährt Manfred Dittrich zu den Treffen der Gustloff-Ehemaligen, die sich bei ihm auch mit einer Urkunde bedankten.
Das Flüchtlings-Drama am Bahnhof Grünhagen
Heinz Timmreck aus Bad Salzuflen überlebte auf der Flucht ein großes Zugunglück und den Angriff sowjetischer Panzer auf die Vertriebenen
Von Hans-Jörg Kühne
Bad Salzuflen. Der Untergang der "Wilhelm Gustloff" war eine der größten Flüchtlingskatastrophen im Zweiten Weltkrieg. Aber im Schatten davon gab es auch andere größere Unglücksfälle. Einen erlebte der heute in Bad Salzuflen lebende Heinz Timmreck.
Historisches: Am 12. Januar 1945 beginnt die Rote Armee mit ihrer Winteroffensive und rückt mit gewaltiger Übermacht vor. Im Januar 1945 schneiden die 2. und 3. weißrussische Front Ostpreußen von allen Landverbindungen ab. Es ist der 21. Januar 1945 in dem ostpreußischen Ort Buchwalde. Die Lage ist mehr als kritisch. Schon lange wälzen sich Flüchtlingstrecks in Richtung Westen. Jetzt entschließt sich die Mutter des achtjährigen Heinz Timmreck und seines vier Jahre älteren Bruders Diethelm zur Flucht.
Heinz Timmreck erinnert sich: "Viele, viele Menschen mit Handgepäck, Rucksäcken, Schlitten und Handwagen bewegten sich in Richtung Bahnhof, dazwischen Trecks und Militär. Uniformierte versuchten die Massen zu lenken. Am Bahnhof herrschte heilloses Durcheinander, viele Menschen befanden sich in Panik. Wir hatten großes Glück, denn meine Mutter bekam mit uns noch Platz in einem auf dem Bahnhof unter Dampf stehenden Güterzug. Alle im Güterwagen saßen dicht gedrängt auf dem Boden. Babys und Kinder weinten, alte Frauen beteten laut. Nach Einbruch der Dunkelheit setzte sich der Zug in Richtung Elbing in Bewegung."
Apokalyptische Szenen verfolgen Timmreck immer noch
In dieser Nacht passierte eine jener vielen Katastrophen, die nicht minder entsetzlich waren als der Untergang des Flüchtlingsschiffs "Wilhelm Gustloff". Timmreck: "Plötzlich wurden wir mit einem großen Ruck durchgeschüttelt, und der Zug stand. Was war passiert? Unser Zug war wegen der nahen Front nachts ohne Beleuchtung gefahren und auf einen im Bahnhof Grünhagen haltenden Lazarettzug aufgefahren. Wir hatten nochmals großes Glück, denn unser Wagen blieb als zweitletzter unbeschädigt."
Der junge Heinz Timmreck erlebt nun apokalyptische Szenen, die ihn sein Leben lang verfolgen werden: "Einige Eisenbahnwagen waren aus den Schienen gesprungen, andere hatten sich ineinander verkeilt. Im hohen Schnee ging es an weinenden, wimmernden, schreienden Menschen und verwundeten Soldaten vorbei zum Bahnhof Grünhagen. In der Ferne hörten wir das Grummeln und sahen auch das Aufleuchten von Artilleriefeuer. Im Morgengrauen erschienen auf unserer Seite des Bahnhofs Panzer. Zunächst glaubten wir, es seien deutsche, aber bei deren Näher kommen ging ein Aufschrei durch die Menge, denn es waren russische Panzer, die in die wartende Menge schossen. Meine Mutter nahm mich fest an ihre Hand und lief mit mir, meinem Bruder und vielen anderen Menschen über die Gleise, dann über mit hohem Schnee bedeckte Felder, um einen in der Ferne befindlichen Wald zu erreichen."
Die Timmrecks konnten ihr Leben retten. Nach einer Odyssee findet die gesamte Familie erst 1947 in Elverdissen bei Herford wieder zusammen.
Hans-Jörg Kühne ist Historiker in Bielefeld und arbeitet für diese Zeitung an einer Serie über das Schicksal der Vertriebenen
Gustloff-Katastrophe akribisch recherchiert / Heinz Schön aus Bad Salzuflen schrieb 18 Bücher
Bad Salzuflen (spar). "Der 30. Januar ist für mich immer ein schwieriger Tag", sagt Heinz Schön aus Bad Salzuflen. Denn rund um den Jahrestag der größten Schiffskatastrophe überhaupt sieht er alles wieder vor sich: die weinenden Kinder, die schreienden Menschen, die sich verzweifelt an Gegenstände auf dem vereisten Schiffsdeck klammerten. Heinz Schön hat den Untergang des Flüchtlingsschiffs "Wilhelm Gustloff" überlebt. Der damals 18-Jährige war Angehöriger der Handelsmarine. Zwei Männer hätten ihn im letzten Moment aus der zwei Grad kalten Ostsee gefischt und auf ein Floß gezogen. Später gehörte er zu den 564 Geretteten, die mit dem Torpedoboot T 36 nach Sassnitz gebracht wurden. Mit einem der Besatzungsmitglieder, Manfred Dittrich aus Bielefeld, trifft sich Heinz Schön auch heute noch auf Veranstaltungen für die Gustloff-Überlebenden.
Doch das Erlebte will Heinz Schön, der 37 Jahre lang Fremdenverkehrsdirektor der Stadt Herford und Leiter des dortigen Stadttheaters war, nicht vergessen. Im Gegenteil: Akribisch recherchierte er alle Details rund um die Flüchtlingskatastrophe auf der Ostsee. Er schrieb 18 Bücher, wirkte bei Fernsehdokumentationen und Spielfilmen mit und lieferte auch die Chroniken für die Novelle "Im Krebsgang" von Günter Grass.
Zum 60. Jahrestag der Katastrophe wird Heinz Schön am Sonntag an einer Gedenkfeier in Gotenhafen (heute Gdynia), von wo aus die Gustloff zu ihrer letzten Fahrt startete, teilnehmen.
Geschichte in der Tiefe der See / Restemeyer will Tauchverbot an Wracks
Paderborn (JS). Ulrich Restemeyer ist ein Bär von einem Mann, den so schnell nichts zu Tränen rühren kann. Doch wenn der Paderborner Profitaucher bei Expeditionen zusammen mit Überlebenden der "Wilhelm Gustloff", der "Goya" oder der "Steuben" zu den noch immer in der Ostsee liegenden Wracks fährt, dann "geht einem schon mal die Stimme weg", erzählt der 46-Jährige. "Jeder Überlebende hat sein Schicksal", meint er, und trage daran auch noch 60 Jahre nach den Ereignissen, die tausende von Flüchtlingen das Leben kosteten.
Seit Anfang der 90er Jahre ist der Paderborner in der Ostsee der deutschen Geschichte auf der Spur. Angefangen habe alles 1972 mit einem Tauchkurs in Spanien, erinnert sich Restemeyer. Doch schnell war ihm klar, dass er "keine Lust hatte auf Fische und Flora". Wracks, und ganz besonders die gesunkenen Schiffe der spanischen Armada, faszinierten damals mehr und so ging's mit dem berühmten Schatztaucher Mel Fisher vor den Küsten Amerikas auf Tour.
Als 1989 in Europa die Grenzen fielen, zog es Ulrich Restemeyer an die Ostsee. "Da hatte ich die Wracks vor der Haustür." 1990 machte er mit der "Wilhelm Gustloff" seine erste große Entdeckung. "Da war ich plötzlich einer der berühmtesten Kameramänner", erinnert er sich und schmunzelt.
Schließlich sei der Fotoapparat, mit dem er den Namenszug des Flüchtlingsschiffes abgelichtet habe, nur geliehen gewesen. Auch die Flüchtlingsschiffe "Steuben" und "Goya" fand der Paderborner, der bei seiner Suche oft auf das Kartenmaterial erfahrener Ostseefischer zurückgreift. An die 60 Fernsehproduktionen hat er zu seinen Entdeckungen schon abgedreht - eine übrigens zusammen mit Bob Ballard, dem Entdecker der "Titanic". Bei allem Entdeckergeist will Restemeyer, der mit der Boden- und Denkmalpflege in Mecklenburg-Vorpommern zusammenarbeitet, rund um die Flüchtlingsschiffe für Ruhe sorgen - auch mit Blick auf die Toten, die in der Ostsee ihr Grab fanden. Gemeinsam mit den Behörden will er für diese Wracks ein Tauchverbot durchsetzen.
29./30.01.2005
redaktion@neue-westfaelische.de
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