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Herforder Kreisanzeiger / Neue Westfälische , 27.01.2005 :

Die Toten von Blockstelle 100 / Heute vor 60 Jahren starben am Stellwerk Stedefreund über 40 Menschen im Kugelhagel alliierter Tiefflieger

Von Hartmut Braun

Herford. Die drei Jagdbomber kamen ohne Vorwarnung. Im Tiefflug näherten sie sich dem kleinen Bauzug, der in langsamem Tempo das Stellwerk in Stedefreund passierte; vielleicht stand er auch vor dem Signal. Es fielen Bomben; aus Bordwaffen wurde gefeuert. Mehr als 40 Menschen starben, überwiegend polnische Kriegsgefangene – heute vor 60 Jahren.

Werner Brünger aus Stedefreund war 15 Jahre alt, als die Männer vor seinen Augen starben. Überall lagen Tote, an der Böschung, auf den Feldern, auf den beiden offenen Waggons. Einige hatten Schutz in der Unterführung gesucht – vergeblich. Dazwischen Verwundete, schutzlos. "Zitternde Männer standen auf unserem Hof", erinnert er sich. "Es war sehr grausam; ein ganz trauriger Tag."

Auch sein Nachbar Manfred Wiedemann war dabei, als Fünfjähriger. "Einige der Verletzten waren bei uns im Haus".

Die Küche war das einzige geheizte Zimmer. Dort leisteten nach Wiedemanns Erinnerung die Mutter und Mitbewohner Erste Hilfe. "Ein Pole kniete vor dem Sofa, mit einer Kugel im Rücken." Seine Mutter habe sich später darüber empört, dass die Toten einfach über den Acker fortgeschleift wurden.

Es war das sechste Kriegsjahr. Auch in Stedefreund war häufig Fliegeralarm. Die alliierten Bomber hatten es auf die Bahnstrecke Köln–Berlin abgesehen; Hauptziel war das "Viadukt" Schildesche, dessen Zerstörung den Nachschub der Reichswehr empfindlich gestört hätte. Anfang 1945 ließ die deutsche Führung daher eine zweite Gleisverbindung als "Umgehung" der Brücke bauen. Brünger: "Wir nannten sie die Gummibahn".

Zu diesen Arbeiten wurden auch polnische Kriegsgefangene herangezogen, die im Herforder Bahnbetriebswerk auf dem Güterbahnhof untergebracht waren. Man brachte sie in "Bauzügen" auf die Baustelle und zurück – auch am 27. Januar 1945.

Der Zug an Blockstelle 100 bestand aus der Lokomotive und zwei Wagen. Die Lokomotivführer mussten hier das Signal zur Weiterfahrt abwarten. "Eine begehbare Signalbrücke für vier Blocksignale überspannte das Gleisfeld", weiß der Eisenbahner Eckhardt Meier, der hier später selbst noch gearbeitet hat.

Bei Bombenangriffen stand das Signal oft auf Rot. Wiedemann erinnert sich, dass der Zug "eher stand als fuhr", als die Jagdbomber im Tiefflug angriffen. Lokomotive und Waggons seien getroffen worden. Doch über die Einzelheiten gibt es unterschiedliche Darstellungen.

Die behördliche Version stammt aus der Feder des Verwaltungschefs des Amtes Herford-Hiddenhausen, Aßler. Auf einem vorgedruckten Formular notierte er "2 Spengbomben auf Bahn, 2 auf Wohngebiete, 3 auf freies Gelände, 45 Tote 20 Verwundete, zerstört: 1 Eisenbahn, 1 Wohnhaus schwer, 3 Wohnhäuser leicht!"

Doch die Stedefreunder Zeitzeugen wissen nichts über an diesem Tag zerstörte Häuser. Von Sprengbomben ist in den Erzählungen der Zeitzeugen nicht die Rede – sie konzentrieren sich auf den Bordwaffenbeschuss.

Herfords Stadthistoriker Dr. Rainer Pape und in seinem Gefolge der Bestsellerautor Jörg Friedrich ("Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg", 2002) schreiben von 31 Toten und 29 Schwerverletzten; der Zug habe 93 Kriegsgefangene und fünf deutsche Begleiter transportiert.

Doch eine überprüfbare Quelle für diese Zahlen geben die Autoren nicht an; Brünger erinnert sich an mehr als 40 Tote. Ob Deutsche darunter waren, weiß er nicht. Es wurde damals in Stedefreund kaum darüber gesprochen.

Am Rand des Friedhofs Ewigen Frieden gibt es einen Grabstein über einem Massengrab für 35 polnische Soldaten. Werner Förster vom Friedhofsamt entnimmt seinen Unterlagen, dass 34 von ihnen am 27. Januar Opfer eines Bombardements wurden, das in Brake stattgefunden haben soll. So steht es auch in polnischer Sprache auf dem Grabstein. Er kennt ihre Namen, aber nicht die Herkunft.

Es sind die Toten von Blockstelle 100 in Stedefreund. Gerd Sievers und Gerhard Arnholz standen vorgestern in der Kälte an den Gleisen in Stedefreund. Ein ICE glitt vorbei. Sie gedachten der Männer, die heute vor 60 Jahren hier starben – der Polen und der (unbekannten) Deutschen.


lok-red.herford@neue-westfaelische.de

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