Neue Westfälische ,
27.01.2005 :
Schüler lernen aus der Vergangenheit / Beobachtungen an drei Schulen in Gütersloh
Die Beschäftigung mit der Vergangenheit erleichtert den Schulen die Bewältigung der Gegenwart. Gerade am Beispiel der Vernichtung der Juden können Schüler lernen, wohin die Ausgrenzung von Minderheiten, von Menschen anderer Religion führen kann. Wir beobachteten drei Schulen in Gütersloh.
Von Bernhard Hänel
Gütersloh. Mit einer brennenden Kerze geht Peter Garsten heute in den Unterricht seiner Klasse 9f in Gütersloh. Mit dieser Geste will der Geschichtslehrer an der Janusz-Korczak-Gesamtschule seine Schüler nicht nur erstaunen; der ungewohnte Auftritt soll sie sensibilisieren für einen besonderen Tag und ein besonderes Thema: Heute vor 60 Jahren wurden die wenigen Überlebenden aus der Menschenvernichtungsfabrik Auschwitz befreit.
Lehrer Carsten wird mit den 15-jährigen Schülern die neue ZDF-Dokumentation von Guido Knopp anschauen und besprechen. Er tut dies, "obwohl die Befassung mit dem Nationalsozialismus schon wegen unseres Namenspatrons fest im Lehrplan unserer Schule verankert ist", sagt Schulleiter Christian Ladleif. Korczak war Mediziner, Schriftsteller, Pädagoge - und polnischer Jude. Er leitete ein Waisenhaus und blieb seinen Kindern bis in den Tod treu. "Unser Schulname verpflichtet", sagt Ladleif.
"Das ist ein dauerhafter Erziehungsauftrag"
Die Erinnerung an den Nationalsozialismus ist nicht an Gedenktage gebunden. Gerade abgeschlossen ist eine große, von den Schülern erarbeitete Ausstellung über Korczak in der Gütersloher Apostelkirche. In unterschiedlichen Schuljahren begegnen die Schüler dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte. So auch im 10. Schuljahr, wenn sie Gedenkstationen in der Stadt aufsuchen, auf der Suche nach einstigem jüdischem Leben in der Stadt oder nach Menschen, die nicht anders konnten, als Widerstand zu leisten gegen die Nationalsozialisten, und mit dem Leben dafür bezahlten. "Die Auseinandersetzung mit dieser Zeit ist ein dauerhafter Erziehungsauftrag an unserer Schule", sagt Ladleif.
Auch die Anne-Frank-Schule benötigt keine besonderen Anlässe zum Gedenken. "Wir machen heute nichts Besonderes in unserer Schule", sagt Oberstudiendirektorin Jutta Obbelode. Schließlich ist auch der Name der zweiten Gütersloher Gesamtschule Verpflichtung. Wer hat nicht voller Ergriffenheit, Trauer und Wut Anteil genommen an Anne Franks Schicksal, an ihrer ersten Liebe, an ihrem frühen und sinnlosen Tod? Ihr Tagebuch dokumentiert auf einzigartige Weise das jenseits aller Vorstellungskraft liegende Leid, welches die Nationalsozialisten über die Juden gebracht haben.
Natürlich kennen alle Schüler Annes Tagebuch. Sie lesen es im 5. Schuljahr. Auch in den folgenden Schuljahren lässt die Schüler das Thema Holocaust nicht los. So leistete die Schule ihren Beitrag zur Versöhnungsarbeit mit Überlebenden der nationalsozialistischen Herrschaft: Sie lud ehemalige Zwangsarbeiter in die Anne-Frank-Schule ein und die Stadt Gütersloh.
Für diesen Beitrag ist der Leiter des Evangelisch Stiftfischen Gymnasiums, Ulrich Engelen, der Gesamtschule besonders dankbar. Denn sein Gymnasium trägt an einer besonders schweren historischen Last aus der NS-Zeit. Damals leitete Friedrich Fliedner die renommierte Schule, ein "Deutscher Christ", wie sich den Nationalsozialisten eng verbundene Protestanten nannten. "Fliedner war ein Judenhetzer erster Güte", sagt Engelen. Dieses belastende Erbe verpflichte. Ebenso die Tatsache, dass die Gütersloher Synagoge wenige Schritte von der Traditionsschule gestanden habe.
"Dieses Jahr, in dem sich die Befreiung von Auschwitz und das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 60. Mal jähren, haben wir uns nicht nur für heute besonders viel vorgenommen", erzählt Engelen. Angesichts des abstoßenden Auftritts der NPD im sächsischen Landtag sei das gesamte Kollegium gefordert: "Wir dürfen nicht erneut vor die Situation unserer Eltern und Großeltern gestellt werden: Warum habt ihr nichts gesagt?" Engelen will was sagen. Als Pädagoge. Ohne Zeigefinger. Auch bei der nächsten Andacht in seiner Schule, auf die er sich besonders intensiv vorbereitet.
Dankbar erinnert sich Engelen an den Besuch der Zwangsarbeiter in seiner einst von antisemitischer Hetze vergifteten Aula. "Ich habe um Vergebung gebeten - und sie wurde uns gewährt."
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