Neue Westfälische ,
27.01.2005 :
Häftling 105.041 / Kurt Steinitz (98) überlebte das Vernichtungslager Auschwitz und den Todesmarsch
Kurt Steinitz erlebte eine Odyssee durch die Hölle: Als die Rote Armee heute vor 60 Jahren Auschwitz befreite, war der heute 98-Jährige bereits mit tausenden Häftlingen auf dem Todesmarsch gen Westen. Aber er überlebte und kam später wieder nach Paderborn. Am Jahrestag blickt er zurück.
Von Simone Förke
Paderborn. "Antreten - das war das Wichtigste im Lager." Kurt Steinitz ist angetreten. Tag für Tag. In seiner gestreiften Häftlingskleidung. Auf dem Appellplatz im Konzentrationslager Auschwitz. Und immer schwirrte im Kopf nur ein Gedanke: Woher bekomme ich das nächste Stück Brot? Überlebenswille in der Hölle. Der hat ihn auch beim zweitägigen Todesmarsch am Leben gehalten, als die Nazis im Januar 1945 tausende der Auschwitz-Gefangenen vor der näher rückenden Roten Armee gen Westen brachten. Als Auschwitz am 27. Januar 1945 von den Sowjets befreit wurde, war der heute 98-jährige Paderborner aus dem Stadtteil Wewer bereits im nächsten Lager: Nordhausen; dann kam noch Bergen-Belsen.
105.041 - eine Zahl, die sich tief ins Gedächtnis von Steinitz gegraben hat. Und tief unter die Haut seines linken Unterarmes. Seine Häftlingsnummer aus Auschwitz. Aus einem Arbeitslager in Paderborn - in der Stadt lebte er seit 1939 - war der aus dem oberschlesischen Hindenburg Stammende 1943 über Bielefeld gen Osten deportiert worden. "Dort sollten wir arbeiten, hatten wir gehört." Nach drei Tagen Zugfahrt der Halt: Auschwitz, Endstation. "Plötzlich gingen die Türen auf. Ein Schreien und Schlagen. Ein Haufen Menschen und Gepäck." An der berüchtigten Selektionsrampe sah Steinitz seine Frau Sofie, die er im Arbeitslager geheiratet hatte, zum letzten Mal. Sein Beruf Schlosser rettete ihm das Leben: arbeitsfähig. Antreten, ausziehen, Haare scheren. "Alles ging so schnell, war so raffiniert gemacht, dass man gar nicht zum Denken kam." Der Zufall wollte es, dass der Blockälteste - "das war für uns der liebe Gott" - von nebenan aus Steinitz' Geburtsort kam. Er half mit Essen ("Das bedeutete Leben") und Arbeit in der Lagerwerkstatt. Und er gab Steinitz den Rat: "Denk an nichts mehr. Hier kommst du nicht mehr raus. Außer wenn der Krieg zu Ende ist." Von Tag zu Tag zu überleben: Steinitz schaffte das Unmögliche.
"Denk an nichts mehr. Hier komst du nicht mehr raus."
"Eines Morgens hieß es plötzlich: Antreten. Das Lager wird geräumt", erinnert er sich an den Januar 1945. Nach Gleiwitz liefen sie zwei Tage lang durch den Januar-Schnee. Der Todesmarsch. "Wer nicht mitkam, blieb im Graben liegen." Tausende starben an Entkräftung oder wurden erschossen. Im offenen Kohlewaggon gings weiter nach Nordhausen ins KZ Dora-Mittelbau. "Dort wars schlimm. Die wenigen SS-Leute gingen nicht rein ins Lager, außer zum Appell. Und die Kapos kamen aus osteuropäischen Ländern."
Steinitz, Ehrenvorsitzender der jüdischen Kultusgemeinde in Paderborn, hat Nordhausen kurz nach der Wende besucht, das Gelände von damals aber nicht wieder erkannt: "Wir gingen im Krieg im Dunkeln raus zum Arbeiten und kamen im Dunkeln wieder rein." Er verlor Zeit- und Ortsgefühl. Irgendwann wieder der Befehl: Antreten. Wieder Evakuierung. Das KZ Bergen-Belsen bot einen grauenvollen Anblick. Der Paderborner schüttelt erschüttert den Kopf: "Auf dem Appellplatz, so groß wie der Paderborner Maspernplatz, lagen Berge von Skeletten Verhungerter." Wenige Tage später kamen die Panzer der Alliierten, das Lager wurde am 15. April den Engländern übergeben. "Wir bekamen etwas zu essen. Die Tore öffneten sich. Wir waren frei."
Zehn Jahre lebte er danach in Israel, wo er die verschollen geglaubte Mutter, die Schwester und ihre Familie wiedertraf. 1957 kehrte er mit Ehefrau Eva zurück nach Paderborn, wo er bis zum 70. Lebensjahr im Kurierdienst für die englischen Streitkräfte arbeitete. Kurt Steinitz hat die Jahre der Odyssee in KZs für sich abgeschlossen. Trotzdem kann er vieles von damals noch heute nicht begreifen: „Wie kann jemand lachend und mit der Zigarette im Mund Menschen so etwas antun? Man kann es sich nicht vorstellen."
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