Lippische Landes-Zeitung ,
25.01.2005 :
Zwei Grad kalter Horror / Vor 60 Jahren überlebte Heinz Schön den Gustloff-Untergang
Von Hartmut Salzmann
Bad Salzuflen. Heinz Schön, 78, könnte am kommenden Sonntag zum zweiten Mal seinen 60. Geburtstag feiern. Vor 60 Jahren - am 30. Januar 1945 - überlebte der Salzufler den Untergang der "Wilhelm Gustloff". Ein russisches U-Boot hatte das Flüchtlingsschiff versenkt. In der eiskalten Ostsee fanden 9343 Menschen den Tod. Aber - Heinz Schön wird am Sonntag nicht feiern. "Ich weiß, dass ich in der Nacht vom 30. zum 31. Januar wie in all den Jahren zuvor keinen Schlaf finden werde."
Die mit dem Tode ringenden Menschen, die weinenden Frauen, die ihre Kinder verloren haben, die betenden Greise, die auf dem Deck knieten, die Marinehelferin, die sich an die Reling klammerte und rief "Ich will nicht sterben" - all das werde er in dieser Nacht vor sich sehen, prophezeit Heinz Schön (Bad Salzuflen-Lockhausen). "Der Tag, an dem die Gustloff sank, lässt mich nicht mehr los."
Den Untergang überlebte Heinz Schön - damals 18-jähriger Angehöriger der Handelsmarine - körperlich unversehrt. Zwei Männer hatten ihn im letzten Moment aus dem nur zwei Grad kalten Wasser auf ein Floß gezogen. Schöns Verletzungen waren äußerlich nicht zu sehen. "Ich konnte lange über keine Brücke mit eisernem Geländer gehen", erzählt er. Es erinnerte ihn an die Reling, an denen die Menschen sich so lange krallten, bis die Kraft aus ihren Fingern wich. "Lange Zeit konnte ich in kein Auto steigen. Sobald es sich bewegte, glaubte ich, ich sei in einem Rettungsboot."
Und als er nach dem Gustloff-Untergang auf der "General San Martin" Dienst tat und weitere Flüchtlinge von der polnischen Ostseeküste nach Kopenhagen brachte, schlief Schön draußen in einem Rettungsboot. 22 Mal passierte er auf der San Martin noch das Grab der Gustloff.
Den 30. Januar 1945 überlebt zu haben, hat auch Energien freigesetzt. Akribisch recherchierte der Lockhauser Details zu Geschichte und Geschichten der Gustloff. Schön schrieb mehrere Bücher über die Schiffskatastrophe. Sie dienten als Grundlage für viele Dokumentar- und Spielfilme. Journalisten stehen dieser Tage Schlange bei dem Zeitzeugen. Er ist einer von 55 noch lebenden Überlebenden.
Sogar Günter Grass griff für seine Novelle "Im Krebsgang", die den Gustloff-Horror beschreibt, auf Schöns Chroniken zurück. Ebenso wie der Literaturnobelpreisträger ist auch Heinz Schön für kommenden Sonntag zu einer Gedenkfeier am früheren Hafen der Gustloff im polnischen Gdynia (ehemals Gotenhafen) geladen worden.
Gram gegen die russische U-Boot-Besatzung hegt Schön nicht: "Für mich ist eindeutig klar, dass der Krieg an sich das Schlimmste ist." Zwei mal habe er den Torpedisten besucht, der die tödlichen Geschosse abgefeuert hat, erzählt der 78-Jährige. So wenig Wut er gegen die früheren Kriegsgegner verspürt, so sehr ist Schön entsetzt darüber, wie sich US-Präsident Bush in der Welt aufführt: "Er will Demokratie mit Gewalt bringen. Aber mit Gewalt hat man noch nie Frieden geschaffen."
Stichwort
Wilhelm Gustloff
Am 30. Januar 1945 um 21.16 Uhr wurde das Flüchtlingsschiff "Wilhelm Gustloff" auf der Fahrt von Gotenhafen (Polen) nach Kiel von drei russischen Torpedos getroffen. Binnen 62 Minuten versank der Dampfer in der Ostsee. Von 10.582 Menschen an Bord überlebten 1.239. Unter den 9.343 Toten waren mehr als 5.000 Kinder. Der Gustloff-Untergang ist zahlenmäßig die größte Schiffskatastrophe aller Zeiten.
Die Nazis tauften den für die NS-Freizeitorganisation "KdF" (Kraft durch Freude) gebauten Dampfer auf den Namen des designiertenGauleiters Schweiz, Wilhelm Gustloff, der 1936 von einem jüdischen Studenten erschossen worden war. Ironie des Schicksals: Gustloff wurde am 30. Januar 1895 geboren. Auf den Tag genau 50 Jahre später sank das Schiff, das seinen Namen trug.
salzuflen@lz-online.de
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