Zeitung für den Altkreis Lübbecke / Neue Westfälische ,
19.01.2005 :
Versöhnen und nicht vergessen / Vor 60 Jahren begann für viele Espelkamper der Exodus aus ihrer alten Heimat
Von Karsten Schulz
Espelkamp. Erst vor wenigen Jahren hat Rosemarie Czitrich ihr Kriegs-und Flüchtlingstrauma richtig überwunden. "Wissen Sie eigentlich, was sich vor 60 Jahren ereignete?", fragt sie im Gespräch in der NW-Redaktion. Die ersten Flüchtlingstrecks aus Ost- und Westpreußen setzten sich in Bewegung. Millionen Deutsche flohen vor der russischen Front und fanden später im Westen – viele auch in Espelkamp – eine neue Heimat. Mit dabei auch die heutige Isenstedterin und ihre Familie.
"Meine Kindheit war das Paradies", erinnert sich Rosemarie Czitrich. Der Krieg war im kleinen Dorf Bärenbusch, im Kreis Wongrowitz in der Provinz Posen, noch weit entfernt. "Wir gingen bei den polnischen Familien ein und aus, und die polnischen Kinder bei uns. Und wir verstanden auch die Sprache der jeweils anderen."
1945 kam der Bruch, das Trauma. Erst kamen die russischen Soldaten, plünderten, zerstörten und nahmen mit, was sie gerade gebrauchen konnten. Dann zogen die Polen in ihr Elternhaus. Die achtjährige Rosemarie erlebte, wie die polnische Miliz ihre Mutter abholte, sie mit Füßen trat und mit Gewehren voranstieß. Die Geschwister wurden auseinander gerissen und auf verschiedene Höfe verteilt, wo sie hart arbeiten mussten. Erst einige Monate später kam die Mutter wieder zurück, die oberen Zähne waren ausgeschlagen, der Körper übersät mit Peitschenstriemen und Spuren von Schlägen. Im Dezember 1945 schloss sich ihre Familie den Flüchtenden an. In das elterliche Haus zogen polnische Familien ein. 1953 siedelte sie aus der DDR in den Westen. Sie lernte ihren Mann kennen und gründete in Isenstedt eine Familie.
Erst 1998 – 53 Jahre nach dem Kriegs- und Flüchtlingstrauma – fasste sich Rosemarie Czitrich ein Herz und fuhr nach Bärenbusch zurück. Wie es der Zufall wollte, fuhren im gleichen Bus auch drei Cousinen mit. Alle hatten sich seit mehr als 50 Jahren nicht mehr gesehen.
Im Dorf stehen noch die alten deutschen Häuser, auch das elterliche Haus und die Schule sind noch unversehrt. Die früheren Mägde und Knechte und sogar Irena, Rosemaries Kindermädchen, lebten noch dort. Beide erkannten sich sofort wieder und nahmen sich in die Arme.
"Ich konnte jetzt wieder über das Erlebte sprechen – das Trauma habe ich durch das Wiedersehen überwunden", so die heutige Isenstedterin. Die Hassgefühle verschwanden und machten einem Gefühl der Versöhnung Platz.
Aber: "Vergessen dürfen wir nicht", appelliert die engagierte Frau vor allem an die jungen Menschen, sich für das Flüchtlingsschicksal vieler Deutscher zu interessieren. Rosemarie Czitrich hat deshalb begonnen zu schreiben – gegen das Vergessen.
Erschienen ist "Auch das geschah damals. Hundert Zeitzeugen über Flucht und Vertreibung". Herausgegeben von Rudis Maskus, Gießen 2000 (ISBN 3980623424), 256 Seiten. Ein Exemplar des Buches hat sie dem Espelkamper Stadtarchiv zur Verfügung gestellt.
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