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Lippische Landes-Zeitung , 19.01.2005 :

Bruchstücke in Hinterköpfen / Wilma Rädnitz, Marianne Hellenschmidt und Willi Höwing erinnern sich an den Einmarsch der Amerikaner in Schieder

Schieder-Schwalenberg. Ganze sechs Zeilen - mehr hat Walter Schmidt dem Ende des Zweiten Weltkrieges in seiner Schieder-Chronik nicht gewidmet. Und auch im Stadtarchiv finden sich keine Zeugnisse von jenen Tagen im April 1945. Aber in den Köpfen der Menschen. Die LZ machte sich noch einmal auf die Suche nach Zeugnissen.

Wilma Rädnitz, geborene Hartmann, war beim Einmarsch der Amerikaner gerade mal fünf Jahre alt. Aber sie erinnert sich noch genau. Der Beschuss begann am 5. April 1945 gegen 14 Uhr. Die kleine Wilma und ihre Mutter samt Bruder, Tante und einem Cousin hatten nebenan beim Schuster Sigges Zuflucht gesucht, weil ihnen das sicherer erschien als ihr Zuhause in der Burgstraße 2. "Wir waren zunächst vorn in der Waschküche, aber dann haben wir uns doch ganz nach hinten hinter eine dicke Mauer verzogen." Gott sei Dank: "Ein Geschoss hat die Waschküchenwand durchschlagen." Als die Familie nach vier Stunden voller Angst unversehrt aus ihrem Versteck kam, stand sie sechs amerikanischen Soldaten mit gezückten Gewehren gegenüber.

Doch die taten ihnen nichts. Sie halfen eher: Damals hatte die kleine Wilma Scharlach. Die Krankheit hatte sie heftig erwischt, der Rücken war entzündet, und der Blomberger Landarzt Dr. Siecke senior hatte ihr ein Gipskorsett verpasst. In gewisser Hinsicht war das ihr Glück. Die Besatzungssoldaten hatten sich nämlich nebenan in der Skidrioburg einquartiert, und "jeden Nachmittag um 16 Uhr musste ich da vorbeigehen und mir Süßigkeiten abholen. Ich bekam oft Schokoriegel."

Von Süßigkeiten konnte derweil auf der Domäne Schieder keine Rede sein. Die damals 27-jährige Marianne Hellenschmidt war mit ihren beiden Kindern aus dem Osten auf die Domäne geflüchtet, die ihr Vetter Hans Oehlerking gepachtet hatte. Sie hockte nun mit all den anderen Domänenbewohnern dort unten, ihren zwei Monate alten Säugling auf dem Schoß. "Wir hatten richtig Angst." Derweil erlebte Willi Höwing jenen Tag mit der ganzen Unbefangenheit eines 13-Jährigen: "Ich war auf den Dachboden des Schlosses geklettert und habe von da aus beobachtet, wie die Panzer aus Richtung Wöbbel anrückten. Angst hatte ich nicht." Tagelang schon hatte der Sohn des Schlossverwalters Wilhelm Höwing wie alle Schiederaner das Grummeln des herannahenden Beschusses gehört, jetzt erlebte er ihn live: "Ich sehe noch heute, wie aus der Ecke des Kriegerdenkmals - das war damals noch beim heutigen Blumenhaus Dümchen - ein Feuerstrahl kam. Dort hatten sich die Deutschen verschanzt. Und dann ging ein Stück weiter ein amerikanischer Panzer in Flammen auf." Irgendwann kletterte der Junge vom Dachboden herab. "Da stand unten am Schloss ein Neger. Ich konnte ein bisschen Englisch und sagte ihm, dass hier nur Frauen und Kinder sind. Ich werde nie vergessen, was er geantwortet hat: "You are now the same like me. With one difference: I have a gun." ("Du und ich, wir sind gleich. Mit einem Unterschied: Ich habe ein Gewehr.")

Den Tag im Schutzkeller hat Marianne Hellenschmidt ganz grauenvoll in Erinnerung: "Wir konnten ja die Kühe nicht melken, und ich höre heute noch ihre Schreie." Sie wohnte damals mit der Pächterfamilie im heutigen Landhaus Schieder. "Ein Geschoss ist direkt in dem Raum explodiert, in dem ich sonst mit meinen Kindern gewohnt habe. Alles war kaputt." Ansonsten machten sich die Amerikaner erst einmal für eine Nacht in dem Haus breit: "Sie haben die Bettwäsche unten auf den Fliesen verteilt und Essig darauf geschüttet. Und sie haben überall ihre Haufen gemacht. Das war wohl die Rache der Sieger", meint sie heute. Tagelang brauchten die Frauen auf der Domäne, um das Haus wieder bewohnbar zu machen. "Es wurde auch geplündert. Mein Fotoapparat war weg."

Willi Höwing hat die Besatzungszeit ganz anders in Erinnerung: "Es kann wohl sein, dass die durchziehende kämpfende Truppe sich so benommen hat. Die Besatzer, die hinterher kamen, die waren von einem anderen Schlag." Wegen seiner Englischkenntnisse wurde der Gymnasiast öfter zum Dolmetschen herangezogen. Er übersetzte auch einen Passierschein für seinen Vater.

Sein Englisch kam ihm oft zugute: Gemeinsam mit einem Kumpel hatte es der Halbwüchsige auf die Tagesrationen mit Schokolade und Zigaretten abgesehen: "Die Amis hatten ihre Jeeps zwischen den Linden im Schlosspark geparkt. Ich habe die Jungs vorn in ein Gespräch verwickelt, und hinten hat mein Kumpel die Pakete stibitzt. Bis wir erwischt worden sind." Aber nicht mal da passierte den beiden Schlingeln was.

Für die Erwachsenen brachte der Ansturm der Siegermächte viel Angst und Schrecken mit sich. Einen Tag, bevor die Bischofsstadt in Schutt und Asche gelegt wurde, war Marianne Hellenschmidt wegen einer Ohrentzündung ihrer kleinen Tochter noch zum HNO-Arzt nach Paderborn gefahren. Auf dem Rückweg kurz vor Schieder kam plötzlich ein Tiefflieger, vor dem sie sich in den Graben flüchtete. Er lud seine Bombenlast nicht über dem Ort, sondern an der Emmer ab. Dafür hat Wilma Räditz die passende Erklärung: "Die versuchten, die Eisenbahnbrücke zu treffen. Ich habe später die Krater selbst gesehen."

All dies hat Narben hinterlassen. "Wenn man älter wird, dann lebt man ja immer mehr mit seinen Erinnerungen", sagt Marianne Hellenschmidt heute. "Aber eines ist klar: Wirklich vorstellen können es sich nur die, die dabei gewesen sind."


blomberg@lz-online.de

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