Bielefelder Tageblatt (OH) / Neue Westfälische ,
04.01.2005 :
Protest und Fragen zu Hartz IV / Demonstranten und Polizei in der Agentur / 1.000 ALG II-Empfänger suchten Rat
Von Birgit Guhlke und Regine Kleist
Bielefeld. Polizisten in der Agentur für Arbeit, ein neu eingerichteter Beratungsraum mit Informationstheke im Erdgeschoss, Demonstranten vor und im Gebäude – und schließlich gut 1.000 Frauen und Männer, die noch Fragen zu ihrem Bescheid zum Arbeitslosengeld II (ALG II) hatten. Das prägte gestern das Bild in der Behörde an der Werner-Bock-Straße. Hartz IV ist in Kraft getreten – auch in Bielefeld.
Die Demonstranten von einer als "blaues Wunder" betitelten Gruppe hatten sich mit ihrem Protest gegen Hartz IV in Bielefeld einer bundesweiten Aktion unter dem Titel "Agenturschluss" angeschlossen. Dabei wurde dazu aufgerufen, "die Arbeitsagenturen und Personal Service Agenturen lahm zu legen". Agenturdirektor Dr. Peter Glück gewährte den etwas mehr als ein Dutzend Frauen und Männer Zutritt ins Gebäude und stellte sich auch dem Gespräch, obwohl ihre Aktion nicht angemeldet war.
Erst als die Demonstranten der Bitte nach ruhigem Protest nicht nachkamen, machte Glück schließlich von seinem "Hausrecht" Gebrauch: Weil die Gruppe nicht freiwillig die Behörde verließ, schoben Polizisten die Demonstranten wieder vor die Tür. Etwa 20 Beamte waren vor Ort, dazu noch sechs Ermittler vom Staatsschutz in Zivil. Eine Aktion der PDS mit Informationsstand hingegen vor der Agentur für Arbeit war genehmigt.
Kurzzeitig hatten Ratsuchende Schwierigkeiten, in das Gebäude zu gelangen, weil erst alle Demonstranten des Hauses verwiesen werden sollten. Insgesamt aber gestaltete sich dieser Hartz-IV-Starttag in Bielefeld relativ reibungslos. In der Agentur wiesen Mitarbeiter Kunden bereits im Eingangsbereich den Weg, auf allen Etagen standen immer zwei weitere Mitarbeiter bereit, um zu helfen. Denn nicht nur der Start von Hartz IV sorgte für volle Flure sondern auch der Quartals- und Jahreswechsel, nach dem es auch neue Antragsteller für Arbeitslosengeld I gebe.
Lob gab es von Monika Ramm-Schüller, Pressesprecherin, für alle Kunden der Arbeitsagentur. Sie hätten sich geduldig in die Warteschlangen eingereiht und Verständnis bei Anlaufschwierigkeiten gezeigt. Schlangen bildeten sich insbesondere im Erdgeschoss, wo die Auskunftstelle der neu gegründeten Arbeitsgemeinschaft von Stadt und Arbeitsagentur (ARGE) ihren Sitz hat. Dort ist die Anlaufstelle für alle ALG II-Empfänger – und solche, die ihren Antrag noch stellen müssen. In 17 Fällen gab es gestern in Bielefeld Barauszahlungen, weil auf den Konten der Antragssteller trotz Bewilligung noch kein Geld eingegangen war.
Und auch sie reihten sich dort gestern ein: einzelne Männer und Frauen, die nun ihren lange fälligen ALG-II-Antrag abgeben wollten. Warum sie so lange gezögert hatten erklärten sie so: "Nicht gewusst", "Immer noch gehofft, in letzter Minute einen Job zu finden", "Nicht dran gedacht", "Die Aufforderungsschreiben nicht bekommen".
Auf die Schnelle einen ALG-II-Antrag ausfüllen mussten auch mehrere Frauen mit Kindern, deren Partnerschaften über den Jahreswechsel in die Brüche gegangen sind und die nun ohne Geld dastehen, vielleicht auch ein neues Dach über dem Kopf benötigen. Da sie theoretisch mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig sein können, fließt neuerdings ohne ALG-II-Antrag kein Cent. Als diese Pflicht erledigt war, wurden sie an die für ihre Wohngegend zuständigen Fallmanager weitergeleitet.
Mehrere Wartende wollen sich ihren ALG-II-Bescheid erläutern lassen, andere mussten noch Bescheinigungen nachreichen: zum Beispiel über die Höhe ihrer Miete und Nebenkosten. Dazwischen auch einige Menschen, die derzeit noch Arbeitslosengeld I beziehen, das jedoch in den nächsten Wochen ausläuft. Sie sind gekommen um nun – in ihrem Fall fristgerecht – ihren ALG-II-Antrag zu stellen.
Gut zu tun hatten gestern auch Lisa Banik und Günter Grünbaum von der Beratungsstelle "Perspektiven für Arbeitslose" der gemeinnützigen Gesellschaft für Arbeits- und Berufsförderung (GAB), die ihren Sitz gleich gegenüber der Agentur für Arbeit an der Werner Bock-Straße hat. Ratlose Langzeitarbeitslose erhofften sich von ihnen Aufklärung, ob ihr ALG-II-Bescheid tatsächlich richtig ist: was vom Einkommen des Partners angerechnet wird, ob alle Freibeträge beachtet wurden, was von den Wohnkosten nun anerkannt wird und was nicht.
Wie Günter Grünbaum berichtete, sind er und seine Kollegin auch gestern wieder auf mehrere Bescheide gestoßen, die falsch sein müssen: wo sich in der Agentur für Arbeit in der Hektik der letzten Wochen Eingabefehler eingeschlichen haben. Besonders ärgerlich finden die beiden Perspektiven-Fachleute jedoch, dass aus den Bescheidformularen nur die Gesamtsumme der anerkannten "Kosten der Unterkunft" hervor gehe, nicht jedoch Einzelbeträge. "Die Antragsteller erfahren nicht, wo Abstriche gemacht wurden, ob die Miete, die Heiz- oder die Nebenkosten als nicht angemessen angesehen werden."
Genauso sei es auch bei der Anrechnung anderer Einkommen des Antragstellers oder der Mitglieder seiner Bedarfsgemeinschaft. Es werde ihm nicht aufgeschlüsselt, welche Beträge anrechnungsfrei geblieben sind. Grünbaum: "Das muss die Politik in Berlin schnellstens ändern. Auch ALG-II-Bezieher sind mündige Bürger. Sie haben ein Recht darauf, Entscheidungen selbst auf den Cent genau nachvollziehen zu können."
Der Rat an alle ALG-II-Verunsicherten: Sie sollten zu ihrer ARGE in der Agentur für Arbeit oder der zuständigen Filiale im Stadtbezirk gehen und sich am Computer oder mit Akten-Einsicht genau erläutern lassen, was Sache ist. Stellen sich Fehler ein, sofort Widerspruch einlegen.
lok-red.bielefeld@neue-westfaelische.de
|