Die Glocke ,
31.12.2004 :
Heinrich Ridder / Leid und Freud' im Lager: die Erinnerungen bleiben
Rietberg-Druffel (ms). 55 Jahre ist es her, dass Heinrich Ridder (Jahrgang 1923) die Heilige Nacht, Silvester und auch das Neujahrsfest im Grenzdurchgangslager Friedland bei Göttingen verbrachte. Für den pensionierten Bornholter und Druffeler Schulrektor gibt es nicht einen Heiligen Abend und nicht ein Silvesterfest, an dem er nicht an die unbeschreiblichen und ergreifenden Ereignisse erinnert wird. Von wenigen Ausnahmen abgesehen bemerkte er damals gar nicht, dass es Festtage waren. Tag und Nacht strömten Russland-Heimkehrer in das Auffanglager mit unendlich vielen Fragen nach ihren Angehörigen und ihren neuen Heimatorten. Auch unter den 2.700 Heimkehrern, die allein am Heiligen Abend 1949 das Lager erreichten, spielten sich unvorstellbare Szenen ab. Heinrich Ridder erinnert sich: "Die Gefangenen kamen stets in Hunderterblocks, fünf nebeneinander, 20 Reihen. Die Grenze der damaligen sowjetischen Besatzungszone war etwa fünf bis sechs Kilometer vom Lager entfernt, hinter dem Gut Besenhausen. Am Heiligen Abend mussten wir lange warten. Es war eine kalte, windstille Nacht. An dem provisorischen Zollhaus war ein Weihnachtsbaum aufgestellt, an dem einige Kerzen ruhig brannten. Kurz vor Mitternacht hörten wir Stimmen. Freudig gingen wir den Menschen entgegen. Immer von Neuem war es ein unvorstellbares Erlebnis, wie die Männer nach Jahren oft furchtbarer Strapazen und Demütigungen ihren Emotionen freien Lauf ließen. Immer flossen Tränen, denn die Menschen konnten ihr Glück in diesen Stunden immer noch nicht fassen."
Heinrich Ridder aus Druffel zählte zu den Freiwilligen, die ein Jahr und länger unentgeltlich diesen Dienst im Auffanglager übernahmen. Er unterbrach für ein Jahr sein Studium an der Pädagogischen Akademie in Paderborn, um den Menschen, vor allem den wandernden Jugendlichen, die heimat- und orientierungslos waren, einen Weg aufzuzeigen. Zuvor war er selbst drei Jahre lang Soldat gewesen. Nie wird er das Bild der ausgemergelten Kriegsgefangenen und Heimatlosen vergessen. Doch Leid und Freud' lagen sehr dicht beieinander. Auch für Ridder, denn er lernte im Lager seine spätere Frau, die Rheinländerin Theresia Gilles kennen. Sie war drei Jahre lang Sekretärin des Lagerpfarrers Dr. Josef Krah, der später Botschaftsrat an der Deutschen Botschaft beim Heiligen Stuhl in Rom wurde. 1951 schlossen die beiden in der hölzernen Lagerkapelle von Friedland den Bund fürs Leben. Vor ein paar Jahren feierten die Eheleute das Fest der goldenen Hochzeit.
Leben der Heimkehrer hing am seidenen Faden
Für Heinrich Ridder ist es, als hätte er die erbärmlichen Verhältnisse in dem ältesten deutschen Auffanglager erst gestern erlebt. Er zögert keine Sekunde, wenn er von den "Nissenhütten" (Wellblechbehausungen) der britischen Armee erzählt, in dem die Menschen mehr schlecht als recht untergebracht werden mussten. In ihnen spielten sich erschütternde Familienschicksale ab. So zum Beispiel, wenn es keinen Nachweis über den Verbleib der Familien gab. Aber sie standen auch für das unbeschreibliche Gefühl von Freiheit und Geborgenheit. Hilfsorganisationen sorgten für das Notwendigste, denn die Gefangenen, Vertriebenen und Flüchtlinge hatten zumeist nur Lumpen am Leib. Das am 20. September 1945 durch das britische Militärgouvernement gegründete Grenzdurchgangslager war "Tor zur Freiheit" für Tausende in die britische Zone strömende Heimkehrende und Heimatlose. Im Jahr 1946 waren es täglich bis zu 12.000 Menschen.
Heinrich Ridder und seine Frau erfuhren von unzähligen Schicksalen, nahmen sich der Menschen an und machten mit ihnen die ersten Schritte in die neu gewonnene Freiheit. Heinrich Ridder kam 1949 lediglich mit einem Rucksack ins Flüchtlingslager und erteilte neben dem Lagerdienst in mehreren kleinen Gemeinden auch Religionsunterricht. Ridder erfuhr jeden Tag wie wichtig es ist, dass den Ankömmlingen nicht nur Militär entgegentrat, sondern auch Zivilisten entgegengingen, die ihnen ein "Herzliches Willkommen" und ein "Gut, dass ihr da seid" zuriefen. Fast allen war jahrelang jede Daseinsberechtigung abgesprochen worden. Das Leben der meisten schien nur noch an einem seidenen Faden zu hängen. "Bis auf den letzten Platz besetzt waren Sonntags- und Festtagsgottesdienste, so auch an Weihnachten und Silvester 1949. "In den ökumenischen Gottesdiensten wurden aus tiefstem Herzen 'Großer Gott wir loben dich' und 'Nun danket alle Gott' gesungen", erinnert sich das Ehepaar Ridder. Als am Heiligen Abend 1949 um Mitternacht ein Transport durch die Schlagbäume des Lagers fuhr, besorgte Heinrich Ridder in Windeseile im Nachbarort bei evangelischen Christen ein neues Testament, um die Heimkehrer mit dem Weihnachtsevangelium in Empfang zu nehmen. "Atemlose Stille herrschte bis die Lieder 'O du fröhliche' und 'Stille Nacht' erklangen und das Lager damit in Weihnachtsstimmung versetzt wurde."
Für Heinrich Ridder, dem pensionierten Bornholter und Druffeler Schulrektor gibt es nicht einen Heiligen Abend, nicht ein Silvesterfest, an dem er nicht an die unbeschreiblichen und ergreifenden Ereignisse erinnert wird.
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