Neue Westfälische 06 - Schloß Holte-Stukenbrock ,
01.05.2015 :
Unvorstellbares vor der eigenen Tür / Gauck-Protokoll (2) Realschüler und Gymnasiasten beschäftigen sich mit der Vergangenheit
Von Karin Prignitz
Schloß Holte-Stukenbrock. Manfred Büngener hat die Zahlen schnell überschlagen. Sieben Klassen der Realschule, vier vom Gymnasium, "mehr als 300 werden es sein". 300 Schüler ab Klasse 8, die sich in der Realschule die Sonderausstellung "Es lebe die Freiheit! Jugendliche gegen den Nationalsozialismus" ansehen. Eine beeindruckende Zahl, vor allem wenn der Vorsitzende des Fördervereins "Dokumentationsstätte Stalag 326 (VI K) Senne" den Vergleich zieht. Im Stalag ist am Mittwoch Bundespräsident Joachim Gauck zu Besuch.
"Zur Ausstellung in der Wewelsburg sind in 14 Tagen nur zwei Klassen gekommen." Die Klasse 9 d des Gymnasiums Schloß Holte-Stukenbrock hat im vergangenen Jahr bereits die Anne-Frank-Ausstellung besucht, jetzt sind die 27 Schüler und Schülerinnen gemeinsam mit ihrer Geschichtslehrerin Alexa Schulte zur Sonderausstellung gekommen. Exemplarisch werden dort Wege von oppositionellen Jugendlichen in der NS-Zeit gezeigt. Schicksale von jungen Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft. Dokumentiert wird die Bandbreite ihres widerständigen Handelns. Büngener, der die Gruppe gemeinsam mit Brunhilde Westerhelweg empfängt, stellt den örtlichen Bezug her. Er erzählt von Widerstandskämpfer Heinz Baak, dem in der Stadt ein Weg gewidmet worden ist. Brötchenfahrer sei er gewesen. "In den Brötchentüten, die er verteilte, waren Flugblätter." Nach einem Jahr sei Baak erwischt worden. "Mit 20 Jahren wurde er in Berlin-Plötzensee erhängt." Derzeit werde versucht, noch mehr Informationen zu bekommen. "So können die Jugendlichen nachvollziehen, dass es auch bei uns jemanden gab, der sich gegen die Nazis eingesetzt hat." Und dabei sein Leben verloren hat.
"Eigentlich unvorstellbar" sei das, was im Krieg geschehen ist, meint Leoni Schlatt, "obwohl es doch noch gar nicht so lange her ist". Dass sich ähnliches noch einmal wiederholen könnte, glaubt die 14-Jährige nicht. "Wegen der Erfahrungen, die man gemacht hat." Lea Gräfe sieht das anders und verweist auf die Diktaturen in anderen Ländern. Franziska Peter hält es für unbedingt notwendig, "sich intensiv mit dem Thema zu beschäftigen". Aufmerksam hören die Schülerinnen Manfred Büngener zu, der von der größten Grabstätte mit sowjetischen Kriegstoten in der Stadt erzählt. "Die Namen von 15.000 haben wir inzwischen herausgefunden." 40.000 bis 65.000 seien es insgesamt.
Anschaulich und kompakt sei die Ausstellung, sagt Pädagogin Alexa Schulte. "Sie hat viele Impulse zum Weiterfragen und Weiterdenken gegeben." Im Unterricht habe man gut anschließen und weiterführende Fragen entwickeln können. Interessiert habe die Schüler, die auch nach dem Rundgang noch viele Fragen gehabt hätten, vor allem das Schicksal der Geschwister Scholl. Beide waren Mitglieder der "Weißen Rose" und Symbolgestalten eines an humanistischen Werten orientierten Widerstands. Die Ausstellung endet am 3. Mai.
Schüler beim Bundespräsidenten
Anlässlich der Gedenkveranstaltung zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren ist Bundespräsident Joachim Gauck am Mittwoch, 6. Mai, zu Gast in der Dokumentationsstätte Stalag 326 in Stukenbrock-Senne. Zu den geladenen Gästen gehören Botschafter der Länder, die Teil der ehemaligen Sowjetunion waren, sowie Schüler und Ehrenamtliche, die sich in der Kriegsgräberfürsorge und der regionalen Geschichtsforschung engagieren. Dazu zählen Gymnasiasten und Mitglieder des Drei-Schulen-Theaters aus SHS.
Bildunterschrift: Aufmerksam: Lea Sening, Jacqueline Krepp, Franziska Peter, Katharina Pätzold und Lea Gräfe (v. l.) hören interessiert zu, was Manfred Büngener ihnen zu der Ausstellung erzählt. Dabei geht es um Jugendliche, die seinerzeit ähnlich alt waren wie sie jetzt.
Umfrage / Welche Bedeutung hat der Besuch von Bundespräsident Joachim Gauck am 6. Mai für Stadt und Dokumentationsstätte Stalag 326?
Christian Albert, 29 Jahre, Priester: "Ich glaube, es ist ein wichtiger und historischer Besuch, weil er lokale Geschichte betrifft. Das gibt dem Stalag und den Helfern eine große Bedeutung."
Dieter und Rosemarie Wulfmeyer (75/71), Rentner: "Er erkennt das Stalag-Museum an und gibt dem Ganzen eine Aufwertung. Viele werden wahrscheinlich aufmerksam werden."
Sabine Hoheisel, 48 Jahre, Hausfrau: "Ob er kommt oder nicht, ist mir persönlich egal. Ich mache mir da nicht so viel draus. Für die Stadt freut es mich jedoch."
Wilhelm Franz, 61 Jahre, Kraftfahrer: "Das ist eine Sensation für uns auf der Senne. Der Bundespräsident ist, glaube ich, noch nie hier gewesen. Es wird das Stalag aufwerten."
Jürgen Engelns, 56 Jahre, Fischverkäufer: "Der Ehrenfriedhof hat natürlich eine Tradition, wenn auch eine traurige. Es ist eine Ehre, dass der Bundespräsident sich davon ein Bild macht."
Julia Vorreiter, 18 Jahre, Abiturientin: "Wenn der Gauck kommt, werden hoffentlich noch mehr auf das Stalag aufmerksam. Es kann ein Startschuss für weitere Projekte sein."
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Neue Westfälische 06 - Schloß Holte-Stukenbrock, 30.04.2015:
Was Werner Busch zu danken ist / Gauck-Protokoll (1) Über den Gründer der Dokumentationsstätte
Von Sabine Kubendorff
Schloß Holte-Stukenbrock. Bundespräsident Joachim Gauck kommt am 6. Mai nach Stukenbrock-Senne, um an das Kriegsende vor 70 Jahren zu erinnern. Bis dahin wird die Neue Westfälische unter der Rubrik "Gauck-Protokoll" jeden Tag über die Hintergründe des Besuchs und die Vorbereitungen berichten. Zum Auftakt ein Bericht über den Mann, dem auch zu verdanken ist, dass Gauck kommt.
Werner Busch (89) ist quasi Vater der Dokumentationsstätte, die die Geschehnisse im Stalag 326 aufarbeitet. Das war von 1941 bis 1945 eines der größten Kriegsgefangenenlager für sowjetische Soldaten. 65.000 von ihnen sollen auf dem Ehrenfriedhof ruhen. Dort wird der Bundespräsident am 6. Mai einen Kranz niederlegen und eine Rede halten. Nachdem er die Dokumentationsstätte besucht hat.
Der Arbeitskreis "Blumen für Stukenbrock" veranstaltet seit den 60er Jahren stets Anfang September eine Gedenkveranstaltung auf dem Friedhof, stieß allerdings immer schon wegen seiner linken Orientierung auf viel Abneigung. Auch deshalb hatte es Werner Busch im konservativen Schloß Holte-Stukenbrock schwer, seine Idee von einer Gedenkstätte umzusetzen.
1992 war ein Buch über das Stalag erschienen, im Auftrag der Gemeinde geschrieben von den Historikern Karl Hüser und Reinhard Otto. "Es gab palettenweise Bücher, und keiner interessierte sich dafür." Werner Busch wurde aktiv und ging gleich ganz nach oben. Zu Ministerpräsident Johannes Rau. Doch Busch, der in Begleitung von Friedrich Dransfeld und Reinhard Otto war, kam gar nicht dazu, das Buch und das Projekt "Gedenkstätte" detailliert vorzustellen. "Rau hat sofort abgewunken." Und von 3 Millionen Mark gesprochen, die für den Bau einer Gedenkstätte gebraucht würden und die das Land nicht habe. Busch hat Rau das Stalag-Buch gegeben, außerdem eines für jedes Ministerium, und konnte wieder nach Haus fahren.
Dem damaligen Leiter der Polizeischule, die noch heute auf dem Gelände des ehemaligen Lagers angesiedelt ist, ist es zu verdanken, dass eine vergleichsweise preiswerte Lösung gefunden werden konnte: das Stalag-Arrestgebäude, das die Polizei als Waffenkammer nutzte. Bis 1995 dauerte der folgende Kleinkrieg mit der Denkmalschutzbehörde, den die grüne Regierungspräsidentin Christa Vennegerts beendete, indem sie den Baubeginn verfügte. Im Juni 1996 wurde die Dokumentationsstätte eingeweiht. Mehr als 300.000 Mark waren in die Sanierung des Gebäudes investiert worden. Das Geld kam zusammen dank einer überraschend generösen CDU-Mehrheitsfraktion, die sich dem Thema danach wieder lange verschlossen hat. Sie bewilligte 100.000 Mark. Und es hatte eines Tricks bedurft.
Voraussetzung für einen 240.000-Mark-Zuschuss des Landes war, dass die Gemeinde die Trägerschaft der Gedenkstätte übernahm. Das hat sie dann auch gemacht. "Für fünf Minuten", sagt Werner Busch und lacht. Die Tinte war noch nicht trocken, da war die Trägerschaft an den 1993 gegründeten Förderverein übertragen.
Seitdem musste der Förderverein um jeden Groschen für seine ehrenamtliche Arbeit kämpfen. Inzwischen ist es besser geworden. Land, Kreis und Stadt finanzieren die halbe Stelle von Historiker Oliver Nickel, der jetzt hauptamtlicher Geschäftsführer der Dokumentationsstätte ist und als solcher am 6. Mai die Ehre hat, den Bundespräsidenten durch die Ausstellung führen zu dürfen.
Nickel hatte 2008 von Werner Busch das Amt des Vorsitzenden des Fördervereins übernommen. Heute ist Manfred Büngener Vorsitzender.
2006 wurde Werner Busch auch für sein Engagement für die Dokumentationsstätte das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen. Am 6. Mai sollte er es tragen. Wenn er den Bundespräsidenten trifft.
Info / Zum Kriegsende
Das Forum Russische Kultur wird zusammen mit der Deutsch-Russischen Gesellschaft am 9. Mai einen Kranz auf dem Ehrenfriedhof niederlegen.
Der Stalag-Überlebende Lev Frankfurt spricht am 7. und am 8. Mai mit Gymnasiasten und Realschülern.
Bildunterschrift: Starkes Team: "Es hat sich gelohnt, besonders für die Menschen", sagt Erika Busch über die Arbeit ihres Mannes Werner, der vielen Angehörigen von sowjetischen Kriegsgefangenen helfen konnte.
01./02.05.2015
kap@nw.de
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