Neue Westfälische 12 - Bad Oeynhausen ,
01.05.2015 :
Eine Stadt hinter Stacheldraht / Zeitzeugen: Anfang Mai 1945 begann die Räumung der Bad Oeynhausener Innenstadt / 70 Jahre nach der Evakuierung erinnern sich NW-Leser
Eindrahten, ausdrahten, verdrahten - im Mai 1945 nahezu der einzige Wortschatz in der Kurstadt. Denn urplötzlich wurde Bad Oeynhausen berühmt als Heilbad hinter Stacheldraht. Als am 3. Mai 1945 Bürgermeister Kronheim den Räumungsbefehl für den größten Teil der Stadt erhielt, brach in der Bevölkerung die Panik aus. Sie sollten Häuser und Wohnungen verlassen, um Platz zu machen für das Hauptquartier der britischen Rheinarmee. Nur neun Tage hatten die Innenstadtbewohner Zeit, ihre wenigen Habseligkeit vor den Engländern zu retten und eine neue Bleibe zu finden. "Mitnehmen durften wir nur wenig", erinnert sich Luise Flottmann. Die heute 95-Jährige arbeitete damals im Haushalt einer Architektenfamilie und organisierte für diese federführend die Räumung. Lebensmittel, Kohlen, Decken, Bettbezüge, Kissen, eigene Kleidung sowie Ess- und Kochgeräte durften mitgenommen werden. Möbel und Elektrogeräte blieben zurück. "Alle Türen und Schubladen mussten offen bleiben, die Hausschlüssel beschriftet am Rathaus oder Polizeiwache abgegeben werden", weiß Lothar Heine. 14 Zeitzeugen hat NW-Redakteurin Nicole Sielermann besucht. Sie alle berichten ab kommenden Montag in loser Folge über die Räumung der Innenstadt.
Die Erkenntnis war bitter: Anfang Mai ordnete die alliierte Militärregierung die Freimachung der Stadt an. Und das, obwohl sich die Bad Oeynhausener sicher fühlten. War die Kurstadt doch Lazarettstadt und von den schlimmsten Bombenangriffen verschont worden. Doch schon im Krieg kursierten Gerüchte über englische Flugblätter. "Bielefeld und Minden werden wir schon finden. Bad Oeynhausen wollen wir schonen, da wollen wir selber wohnen" lautete der Schriftzug. Erhalten ist von den Flugblättern keines - und doch erinnern sich einige Zeitzeugen, damals eines in Händen gehalten zu haben.
Der 4. Mai 1945 ging in die Stadtgeschichte ein. Stundenlang harrten Menschen vor dem Rathaus aus, die Unruhe nahm zu, erste Bewohner brachten bereits ihre Habe aus der Stadt. Rudolf Eickmeyer, damals 20 Jahre alt und Bediensteter der Stadt, schilderte einst die Vorgänge: "Die näheren Bestimmungen gehen aus dem im Laufe des Abends noch gefertigten Flugblatt für die Bevölkerung hervor. Ein Plan, der die in Betracht kommenden Teile der Stadt durch rote Markierung anzeigt, wird vor dem Rathaus aufgestellt. Die Nachricht wirkt unter der Bevölkerung einfach niederschmetternd."
Noch am gleichen Abend haben die Engländer Kontrollposten auf allen Ausfallstraßen. eingerichtet. Die Stadt gleicht einem Ameisenhaufen. "Viele Bad Oeynhausener konnten nicht glauben, dass es ein Abschied für längere Zeit sein sollte und nicht selten hinterließen sie den neuen Gästen schriftliche Grüße mit den Wünschen, sich wohl zu fühlen. Einige stellten der einziehenden Besatzung sogar Blumen in die Zimmer." So zumindest steht es in der Chronik der Stadt Bad Oeynhausen geschrieben. Und tatsächlich waren viele Bad Oeynhausener im Ungewissen. Doch erst 1954 begann die erneute Räumung - diesmal von Seiten der Engländer.
Stacheldraht war jahrelang das Sinnbild der Stadt. Neben Bad Eilsen war Bad Oeynhausen übrigens das einzige Heilbad in der Bundesrepublik, das vollständig zum Erliegen kam. "Out of bounds! Off limits! Eintritt verboten" hieß es im besetzten Bezirk.
Es war eine Zeit, die Bad Oeynhausen geprägt hat. Nicht nur die Menschen, sondern auch das Stadtbild. So verursachten die Briten zwischen 1945 und 1954 32 kleinere und mittlere Brände, vier Groß- und drei Totalbrände. Betroffen waren das Friesenhaus (heute White House an der Schützenstraße), die Auferstehungskirche, Musikpavillon und Kurhaus sowie das Badehaus II. Für die heimische Feuerwehr galt: Löschen verboten. Eine Anordnung, die das Verhältnis zwischen Bewohnern und Besatzern stark belastete.
Bildunterschrift: Abgebrannt: Während der englischen Besatzungszeit brannte das Badehaus II an der Herforder Straße (heute Gollwitzer-Meier-Klinik) ab. Das Löschen wurde der Feuerwehr untersagt.
Bildunterschrift: Synonym für die Kurstadt: Stacheldraht bestimmte das Ortsbild. Wie hier an der Unterführung Steinstraße.
Bildunterschrift: "Unser Haus war in der Besatzungszeit zum Gefängnis geworden. Vor den Fenstern gab es senkrecht ins Mauerwerk eingelassene Eisenstäbe und alle Türen hatten Vorhängeschlösser."
Hans-Otto Geertz (75)
Bildunterschrift: "Als der Räumungsbefehl kam habe ich meine Tochter hinten auf Fahrrad gesetzt, habe das Bügeleisen rechts und das Silber links an den Lenker gehängt und bin nach Herford zu meiner Mutter geradelt."
Elisabeth Schwerdt (94)
Bildunterschrift: "Der Weg nach Vlotho in unser Notquartier führte über die zerschossene Rehmer Brücke - unter Lebensgefahr."
Gisela Heidemann (88)
Bildunterschrift: "Oma hatte für Mama einen Bauch-Beutel genäht. In dem schmuggelte sie von den Engländern Essen für uns Kinder."
Margrit Becker (78)
Bildunterschrift: "Das Halstuch kam weg und ich habe meinen Fahrtendolch mit dem Hitler-Abzeichen ruiniert. Mich quasi selbst entnazifiziert."
Werner Ibold (81)
Bildunterschrift: "Als wir uns mit dem Lastwagen voller Lehrlinge und der voll gepackten Kisten der Kontrollstelle näherten, begannen wir zu singen und zu winken."
Ruth Rahlmeyer (86)
Bildunterschrift: "Die Häuser wurden sehr stark renovierungsbedürftig von den Engländern zurückgelassen. Es dauerte lange, bis sie wieder hergerichtet waren."
Ilse Hahne (90)
Bildunterschrift: "Mitnehmen durften wir nicht viel. Aber die Waschmaschine hatten wir schon vorher heimlich über den Stacheldraht gehievt."
Luise Flottmann (95)
Bildunterschrift: "Das Haus war praktisch eigentlich unbewohnbar. Wir konnten von unten durchs Dach in den Himmel gucken."
Karl-Heinz Terbeck (75)
Bildunterschrift: "Wir wurden auf einen Lastwagen geladen, in den Kurpark gebracht und zum Putzen bei den Engländern eingeteilt."
Irmgard Hübner (90)
Bildunterschrift: "Bei der Räumung des Schuhlagers an der Weserstraße habe ich auch zwei Schuhe ergattert und bin damit in die Schweiz gelaufen, um sie anzuprobieren. Leider waren es zwei Linke."
Manfred Saßmannshausen (82)
Bildunterschrift: "Wir wohnten in einer Baracke auf einem Parkplatz. 24 Mann in einer Ein-Zimmer-Baracke, die mein Vater erkungelt hatte."
Helmut Thiesmeyer (81)
Bildunterschrift: "Mein Vater war damals ein überzeugter Sozialdemokrat - aber das durfte nie thematisiert werden."
Ingrid Wellpott (77)
Bildunterschrift: "Wir haben als Kinder in den Gärten Äpfel geklaut und von den Engländern Schläge kassiert - als Dank haben wir ihnen ihre Sachen geklaut."
Lothar Heine (77)
01./02.05.2015
oeynhausen@nw.de
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