Die Glocke ,
24.12.2004 :
Weihnachten 1944 als Soldaten in Ostpreußen / Statt zur Front: In Münster noch "einen drauf gemacht"
Von Henning Bolte
Harsewinkel (gl). Weihnachten 2004. Die Gedanken von Karl Lakebrink und Heinrich Beckmann wandern in diesen Tagen oftmals 60 Jahre zurück. Damals waren sie erst 17 Jahre alt, aber schon als Soldaten im Krieg. Stationiert in Ostpreußen. Und die Russen kamen immer näher. Die Feiertage, die für sie so gar keine waren, verbrachten sie noch an der Front in der Nähe von Allenstein. Doch bereits am 27. Dezember 1944 ging es zurück nach Westen - und in der Silvesternacht waren sie schon wieder zu Hause in Harsewinkel. "Wir haben unheimlich viel Glück gehabt damals, dass wir lebend davongekommen sind", sagen die beiden 77-Jährigen heute.
Karl Lakebrink, der als erfolgreicher Bauunternehmer seit langem in Kölkebeck lebt, und Heinrich Beckmann, Landwirt im Norden der Bauerschaft Beller, waren zusammen mit ihren Freunden Bernhard Holtmann, Bernhard Kröger und Heinrich Rövekamp im Jahr 1944 vom Wehrbezirkskommando in Münster zunächst schlichtweg "übersehen" worden, als es daran ging, das letzte Aufgebot für die Fronten zu mobilisieren. "Alle anderen 17-Jährigen aus Harsewinkel waren schon weg", erinnert sich Karl Lakebrink, "nur wir fünf durften immer noch zu Hause rumhocken." Doch im Herbst war das dann auch vorbei. Irgendwann kam der Gestellungsbefehl. Noch am selben Tag um 14 Uhr sollten sich die fünf jungen Harsewinkeler in Rheine einfinden. "So schnell schießen die Preußen aber nicht", dachten sie in ihrer unbefangenen Art und beschlossen, erst noch eine Nacht in Münster "einen drauf zu machen". Dort wohnte nämlich Karl Lakebrinks Cousine, die gleichzeitig Bernhard Krögers Freundin war. Und so geschah es dann auch. "Wir waren vielleicht einfach nur frech, aber wohl auch ein bisschen dumm. Wenn wir in Münster erwischt worden wären, hätte man uns als Fahnenflüchtige bestimmt an die Wand gestellt", sagen Heinrich Beckmann und Karl Lakebrink heute.
Am nächsten Tag wurde es dann aber tatsächlich Ernst. Von Münster aus fuhren sie mit dem Zug nach Rheine, wurden unterwegs von Flugzeugen angegriffen, mussten im Gelände Deckung suchen und kamen so erst abends am Zielort an. Der Zug, mit dem sie eigentlich Richtung Ostpreußen hätten unterwegs sein sollen, war da längst abgefahren. "Von der Militärpolizei wurden wir zum Wehrbezirkskommando gebracht und haben uns einen mächtigen Anschnauzer abgeholt, aber mehr ist uns zum Glück nicht passiert", so Karl Lakebrink.
Der Roten Armee mit dem letzten Zug entkommen
Als Einzelfahrer sollten die fünf Harsewinkeler dann ihrer Einheit Richtung Osten folgen, doch herrschte damals im Zugverkehr schon solch ein Durcheinander, dass sie es schafften, noch einmal fünf Tage "Heimaturlaub" abzuzwacken. Dann aber gab es auch für sie keinen Aufschub mehr. Über Berlin reisten sie nach Allenstein und kamen schließlich - mit inzwischen gut einwöchiger Verspätung - bei "ihrer" Truppe im Raum Gehlenburg/Gehsen an. Natürlich gab es dort einen weiteren "kräftigen Anschiss", so Karl Lakebrink, aber irgendwie schloss ihr Abteilungskommandeur, der aus Detmold stammte, die fünf schlitzohrigen Harsewinkeler ins Herz, "und so war alles nicht so schlimm", erinnert sich Heinrich Beckmann.
Schlimm wurde es dann aber die nächsten Wochen. Die russischen Einheiten rückten immer näher, und am Heiligen Abend war die Front nur noch rund 15 Kilometer entfernt. "Wir wussten schon, dass wir am Tag nach Weihnachten nach Westen abtransportiert werden sollten", so Karl Lakebrink, "aber wir fragten uns natürlich, was wohl geschehen würde, wenn die Russen noch vorher angriffen". Bei der Einteilung der Doppelposten sei sogar die Fluchtrichtung schon vorgegeben gewesen. Doch der befürchtete Vorstoß der Roten Armee blieb aus, und am Heiligen Abend ergatterten die Harsewinkeler sogar eine Sonderportion Kommissbrot und Grießbrei, womit sie sich richtig den Bauch vollschlagen konnten.
Am 27. Dezember kam dann tatsächlich der Marschbefehl Richtung Westen. Alles sammelte sich zügig am Bahnhof in Gehlenburg, "nur Bernhard Kröger und ich mussten noch eine ganze Weile vor der Amtsstube warten, denn wir sollten noch ein Paket mitnehmen - von unserem Abteilungskommandeur an seine Frau in Detmold", so Karl Lakebrink. Sie seien angewiesen worden, das Paket persönlich abzuliefern, aber in Bielefeld angekommen, hätten sie es dann doch auf die Post gegeben. Mit dem letzten Militärzug, der Ostpreußen noch verlassen konnte, sind die fünf jungen Harsewinkeler damals Richtung Heimat entkommen. Kurz darauf wurde Ostpreußen von den Russen überrollt. Nach viertägiger Fahrt, immer wieder von ungeplanten Stopps unterbrochen, kamen sie Silvester in Bielefeld an, "und von da aus sind wir einfach zu Fuß nach Hause gegangen", so Heinrich Beckmann. Was die fünf Harsewinkeler zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen konnten: Für sie war der Krieg damit beendet. Denn in Münster flog in jenen Tagen das Gebäude des Wehrbezirkskommandos in die Luft, und dabei wurden auch alle Papiere der aus diesem Raum stammenden Soldaten vernichtet. "Wir sind einfach zu Hause geblieben, haben und möglichst wenig sehen lassen und jeden Tag auf einen neuen Gestellungsbefehl gewartet - aber nichts kam", erzählt Karl Lakebrink. Das nächste, was sie vom Krieg sahen, waren die Amerikaner, die Ostern 1945 in Harsewinkel einrückten. "Wir haben schon unheimlich Glück gehabt, dass wir nur so kurz im Einsatz waren und alle fünf überlebt haben - wenn die uns früher eingezogen hätten, wäre das vermutlich ganz anders ausgegangen", sind Lakebrink und Beckmann noch heute ihrem Schicksal dankbar.
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