www.hiergeblieben.de

Westfälisches Volksblatt / Westfalen-Blatt , 12.01.2015 :

Von Empörung nichts in Erinnerung / Wolfgang Schölers Erinnerungen (4): der Synagogen-Brand

Paderborn (WV). Der vierte und letzte Beitrag aus dem Buch "Ein Blick vom Dachgarten" widmet sich der Reichspogromnacht vom November 1938 in Paderborn. Autor Wolfgang Schöler hat die Ereignisse als Jugendlicher hautnah miterlebt.

Ja, ich habe als gerade 17-Jähriger am 10. November 1938 die Zerstörung der Paderborner Synagoge erlebt. Während der Nacht zuvor, so gegen 23 Uhr, wurden wir durch den ungeheuren Lärm geweckt, der von der Synagoge zu unserem Haus herüberschallte. Wir liefen an das Fenster, durch das wir auf den Platz vor der Synagoge schauen konnten.

Erst hörten wir das Geschrei und Gejohle aus der Synagoge herüber schallen. Dann sahen wir von unserem Fenster aus eine Gruppe von etwa 15 bis 20 SA-Leuten aus der Synagoge herauskommen. Sie hatten sich Gebetsschals umgehängt und die Stolen des Rabbiners. Dazu machten sie einen Mordslärm und schwenkten Gebetsbücher und Thorarollen herum, als ob sie einen ungeheuren Sieg errungen hätten. Sie zogen an unserem Haus vorbei in Richtung Domplatz, wahrscheinlich in ihr Vereinslokal Café Schäfers, das in der Rosenstraße lag, um dort ihren »Sieg« zu feiern.

Am nächsten Tage, am frühen Nachmittag, bildete die Polizei erst eine Sperrkette um die Synagoge herum. Die Feuerwehr erschien und baute sich zum Schutz der angrenzenden Häuser gegen ein Übergreifen des Feuers auf. Erst dann erschien ein Trupp uniformierter SA-Leute mit Benzinkanistern und stürmte in die Synagoge. Man hörte wieder Geschrei aus der leeren Synagoge hallen, bis die SA-Leute das Gebäude wieder verließen und nach dem Letzten, dem Zündler, der erste Rauch aufstieg.

Nach einiger Zeit fing das Gestühl an zu knacken und im Feuer zu zerbersten, die bleiverglasten Fenster fielen heraus, und zuletzt verfärbte sich der Rauch grünlich-grau-schwarz, als das Kupferdach durch das Feuer erreicht wurde und auszuglühen begann.

Erst hatte ich vom Fenster aus zugeschaut, später ging ich auf den Platz vor der Synagoge, wo die anderen Zuschauer standen. Bei aller Fassungslosigkeit über die Art der öffentlichen Brandstiftung an einem so gut erhaltenen Bauwerk und einem verschreckten Unbehagen über das Geschehen war ich, wie nach meiner Empfindung die meisten in diesen Augenblicken, nur froh, kein Jude zu sein. Nicht zu denen zu gehören, "die den Zorn oder die Ungnade der Obrigkeit auf sich gezogen hatten." Empörung oder Murren unter den Zuschauern? Davon habe ich nichts in Erinnerung.

"Warum eine Meinung äußern, wenn selbst die höchsten Vertreter der Kirchen schwiegen?"
Wolfgang Schöler

Jedoch gab es in der Paderborner Bevölkerung auch keine gegen die jüdischen Mitbürger gerichtete Stimmung. Nach meiner Meinung überschätzen sich heute viele, wenn sie mehr empfunden und sogar geäußert haben wollen. Warum sollten sie eine Meinung äußern, wenn sogar die höchsten Vertreter beider Kirchen geschwiegen und weggeschaut haben?

Die Zahl der Zuschauer schätze ich heute, wenn ich die Bilder jenes Tages vor mir ablaufen lasse, mit höchstens 500 bis 600 Menschen, einschließlich der Kinder. Der Rest der Straßen und Flächen, von denen man hätte zuschauen können, war durch die Polizei abgesperrt. Hätte ich nicht dort nebenan gewohnt, weiß ich wirklich nicht, ob ich mich auf den Weg dorthin gemacht hätte.

Vor einem Textilkaufhaus in der Bahnhofstraße / Ecke Borchener Straße sah ich an jenem Tage eine Registrierkasse auf dem Bürgersteig liegen, die man aus der ersten Etage geworfen hatte. In der Bachstraße erlebte ich durch Zufall ein weiteres Wirken von SA-Leuten, die in den Wohnungen jüdischen Mitbürger herumschrien und hörbar ihre Wut an Mensch und Möbeln austobten und mit einem festgenommenen Juden aus dem Haus kamen. Viele Geschäfte jüdischer Besitzer hatte man mit Farbe oder alten Tapeten verklebt und einen Judenstern aufgemalt.

Das Buch "Ein Blick vom Dachgarten" ist in den Linnemann-Buchhandlungen zum Preis von 9,90 Euro zu bekommen.

Bildunterschrift: Darstellung der ehemaligen, am 10. November 1938 in Brand gesetzten Paderborner Synagoge.


redaktion@westfaelisches-volksblatt.de

zurück