Neue Westfälische 06 - Schloß Holte-Stukenbrock ,
28.11.2014 :
Die unglaubliche Geschichte der Jennifer Teege / Mehr als 70 Zuhörer verfolgen gebannt die Lesung der Enkelin eines KZ-Kommandanten
Von Sabine Kubendorff
Schloß Holte-Stukenbrock. Eine junge Frau steht in einer Hamburger Bibliothek vor einem Regal und greift spontan nach einem Buch, aus dem sie erfährt, dass ihr Großvater mindestens 500 Menschen umgebracht hat und für den Tod Tausender verantwortlich ist. "Es ist", sagt die junge Frau, "als ob ich in ein Gruselkabinett eintreten würde".
Die Frau ist Jennifer Teege, die vor mehr als 70 Zuhörern in der Aula der Realschule aus ihrem Buch "Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen" vorliest. Ihr Großvater war Amon Göth, KZ-Kommandant, auch genannt "Schlächter von Plaszów". Was für ein Ungeheuer er war, weiß die breite Öffentlichkeit erst seit dem Film "Schindlers Liste". Für Jennifer Teege "war das eigentlich eher Hollywood". Bis sie das Buch entdeckte.
Die jetzt 44-Jährige liest in Schloß Holte-Stukenbrock auf Einladung der Dokumentationsstätte Stalag 326, wo die Geschehnisse in dem Nazi-Lager für russische Kriegsgefangene aufgearbeitet werden. "Wir werden immer wieder angesprochen", sagt Geschäftsführer und Historiker Oliver Nickel, welche Möglichkeiten es gibt, etwas über die Rolle des Vaters oder Großvaters in der Zeit des Nationalsozialismus zu recherchieren. "Was wir nie erfahren, ist das Danach."
Das Danach war für Jennifer Teege erst schrecklich, dann eine Befreiung.
Ihre Mutter hatte sie im Alter von vier Wochen in ein Kinderheim gegeben, mit sieben Jahren wurde sie adoptiert. In der Zeit dazwischen gab ihre Großmutter ihr Wärme, Zuneigung. Die Frau von Amon Göth, der vom Balkon des gemeinsamen Hauses in Plaszów aus Mordlust Lagerinsassen erschoss, nahezu täglich wahllos tötete. Die Frau, die die Musik lauter drehte, um die Schreie nicht zu hören. "Ich will das nicht verharmlosen, aber die Liebe zulassen", sagt Jennifer Teege zu ihren Zuhörern, mit denen sie zwischen den Leseteilen über 40 Minuten eine sehr ernsthafte, intensive Unterhaltung führt.
Sie war vor sechs Jahren in die Bibliothek in ihrer Heimatstadt Hamburg gegangen, weil sie nach Informationen über Depressionen suchte. Darunter litt sie damals. "Heute", sagt sie, "ist meine Traurigkeit verschwunden. Das Buch war der Schlüssel zu allem."
Jennifer Teege schildert ihren Zuhörern, wie sie sich aufmachte, ihre Familiengeschichte aufzuarbeiten. Wie sie litt. "Es war alles zu viel, alles zu schnell." Wie sie durch die Reise nach Plaszów in der Nähe von Krakau Abstand gewinnen konnte. Wie sich Amon Göth nach und nach zurückentwickelte zu einer historischen Person. Wie sie den Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter suchte, die selbst nur durch einen Zufall erfahren hat, dass ihr Vater nicht der geglaubte redliche Arbeitslagerkommandant war.
Als Jugendliche hatte sich Jennifer Teege sehr für die Nazi-Zeit und den Holocaust interessiert, als 20-Jährige ging sie nach Israel und blieb fünf Jahre. Nach der Entdeckung des dunklen Familiengeheimnisses brauchte Jennifer Teege lange, bis sie es ihren israelischen Freunden erzählen konnte. Die waren dann, wie sie ihren Zuhörern erzählt, in erster Linie besorgt, ob sie klarkommt.
Sie hat das Buch geschrieben, "weil ich überzeugt davon bin, dass die Geschichte wichtig ist". Und jetzt wagt sie den nächsten Schritt. Im Februar wird das Buch auf Hebräisch in Israel veröffentlicht.
Info / Das Buch
"Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen" von Jennifer Teege und Nikola Sellmair.
Erschienen beim Rowohlt-Verlag.
Die gebundene Ausgabe kostet 19,95 Euro, das eBook 9,99 Euro.
Bildunterschrift: Die Autorin: Jennifer Teege liest in der Aula der Realschule auf Einladung der Dokumentationsstätte Stalag 326 dank finanzieller Unterstützung der Stadt. Ihr Vater ist Nigerianer.
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- Mittwoch, 26. November 2014 um 19.30 Uhr -
Lesung mit Jennifer Teege: "Amon - Mein Großvater hätte mich erschossen"
- Informationen unter: www.jennifer-teege.de
Veranstaltungsort:
Aula der Realschule
Am Hallenbad 4
33758 Schloß Holte-Stukenbrock
www.rsshs.de
Es ist ein Schock, der ihr ganzes Selbstverständnis erschüttert. Mit 38 Jahren erfährt Jennifer Teege durch einen Zufall, wer sie ist. In einer Bibliothek findet sie ein Buch über ihre Mutter und ihren Großvater Amon Göth. Millionen Menschen kennen Göths Geschichte. In Steven Spielbergs Film "Schindlers Liste" ist der brutale KZ-Kommandant der Saufkumpan und Gegenspieler des Juden-Retters Oskar Schindler. Göth war verantwortlich für den Tod tausender Menschen und wurde 1946 gehängt. Seine Lebensgefährtin Ruth Irene, Jennifer Teeges geliebte Großmutter, begeht 1983 Selbstmord.
Jennifer Teege ist die Tochter einer Deutschen und eines Nigerianers. Sie wurde bei Adoptiveltern groß und hat danach in Israel studiert. Jetzt ist sie mit einem Familiengeheimnis konfrontiert, das sie nicht mehr ruhen lässt. Wie kann sie ihren jüdischen Freunden noch unter die Augen treten? Und was soll sie ihren eigenen Kindern erzählen? Jennifer Teege beschäftigt sich intensiv mit der Vergangenheit. Sie trifft ihre Mutter wieder, die sie viele Jahre nicht gesehen hat. Gemeinsam mit der Journalistin Nikola Sellmair recherchiert sie ihre Familiengeschichte, sucht die Orte der Vergangenheit noch einmal auf, reist nach Polen und Israel. Schritt für Schritt wird aus dem Schock über die Abgründe der eigenen Familie die Geschichte einer Befreiung.
Eine Veranstaltung des Fördervereins Dokumentationsstätte Stalag 326 (VI K) Senne e.V. in Kooperation mit der Stadt Schloß Holte-Stukenbrock.
sk@nw.de
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