Neue Westfälische ,
27.11.2004 :
Probleme mit zuviel Realität / Wirbel um illegale "Übungen" mit Wehrpflichtigen bei der Bundeswehr
Möglichst realistisch versucht die Bundeswehr Soldaten auf Gefahren bei Auslandseinsätzen vorzubereiten. Solche Rollenspiele seien aber nicht Bestandteil der Grundausbildung für Wehrpflichtige, heißt es.
Von Bernhard Hänsel
Berlin/Bielefeld. Vier Stunden war Dirk U. Geisel in Bundeswehruniform. "Etwa 40 Mann waren wir, die bei einer Übung entführt und einigen Torturen ausgesetzt wurden", erinnert sich der Oberstleutnant der Reserve. Natürlich habe er gewusst, dass seine Entführer "Kameraden" seien. Weiße Säcke hätte man ihnen über den Kopf gestülpt, kalt sei es gewesen mitten im Februar im unbeheizten Hangar des Bundeswehrstandorts in Torgelow. "Du bist ein Faschist", hätte ein Geiselnehmer die Kameraden angeschrieen. "Sprich das nach!" Ein Entführter habe sich geweigert und sei umgehend aus der Halle geführt worden. "Jetzt wird der erschossen", dachte Dirk U. Übung und Realität hatten sich längst vermischt. "Warum tue ich mir das an?", sei ihm durch den Kopf geschossen. "Ich habe an meine Frau und an meinen Sohn gedacht", gesteht er ein.
Natürlich sei die Übung direkt im Anschluss besprochen worden. "Die Geiselnehmer haben sich ordentlich vorgestellt. Schließlich geht es darum, Soldaten möglichst realistisch, aber eben doch im Einklang mit den Prinzipien einer Armee eines demokratischen Staates auf mögliche Gefahrensituationen vorzubereiten", meint der Reservist aus Bielefeld.
So sieht das auch der CDU-Bundestagsabgeordnete Jürgen Herrmann aus Höxter. Man müsse aber klar unterscheiden. "Solche Übungen dürfen nicht mit Wehrpflichtigen gemacht werden", betont das Mitglied des Verteidigungsausschusses. Genau solche Fälle aber sind jetzt bekannt geworden. In Coesfeld sollen 80 Rekruten von inzwischen 30 "Tätern" bei solchen Übungen teilweise misshandelt worden sein. Auch aus der Westfalen-Kaserne in Ahlen (Kreis Warendorf) wurden dem Wehrbeauftragten des Bundestags, Wilfried Penner, ähnliche Vorfälle gemeldet.
Der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Rainer Arnold, vermag keine Einzelfälle mehr zu erkennen: "Ich wäre vorsichtig zu sagen, das sind Einzelfälle. Dazu ist die Organisation Bundeswehr zu groß", sagte er in einem Interview.
So weit will Günter Nolting nicht gehen. Immerhin sei er schon 17 Jahre Mitglied des Verteidigungsausschusses und besuche pro Jahr bis zu 30 Truppenstandorte und spreche dort mit Offizieren wie Mannschaften. "Ich will und werde nicht die Bundeswehr unter Generalverdacht stellen", sagte der FDP-Politiker aus Minden.
Gegenüber Feinden sollen Soldaten gewalt bereit sein und intern wie Lämmer
Nolting und Herrmann sind gespannt auf den Bericht, den Verteidigungsminister Peter Struck am Mittwoch dem Ausschuss geben will. Zudem ermittelt in beiden Fällen die Staatsanwaltschaft. Ihren Ergebnissen dürfe man nicht vorgreifen. Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer von der Universität Bielefeld aber verlangt eine kritische Überprüfung von unabhängiger Seite. "Nur wenn unabhängige Beobachter die Strukturen systematisch untersuchen, kann dies Effekte haben und solche Vorfälle verhindern." Bislang habe die Bundeswehr Untersuchungen von Unabhängigen etwa zu rechtsextremen Vorfällen verweigert; nur in Einzelfällen sei detailliert ermittelt worden. "Die Gesellschaft hat ein Recht darauf zu wissen, was in Institutionen mit Gewaltmonopol wie der Bundeswehr abläuft."
Gewalt gehöre im Militär dazu, sagte der Soziologe. "Gegenüber Feinden sollen die Soldaten gewaltbereit sein und intern wie Lämmer. Das funktioniert nicht." Die Rollen ließen sich nicht einfach trennen. Es bestehe die Gefahr, dass die Soldaten ihre Gewaltbereitschaft auf andere Situationen übertragen. "Da ist die Grenze zur Menschenrechtsverletzung nah."
Als mögliche Motive der misshandelnden Ausbilder nennt Heitmeyer Zynismus, Auswirkungen von Erlebnissen bei Auslandseinsätzen, aber auch Elitebewusstsein. "Möglicherweise wollten die Ausbilder ihre Leute hart machen." Ähnlich wie die US-Marines, die mit Gewalt und Härte ihre Elitekader drillten.
Amerikanische Verhältnisse will CDU-Politiker Herrmann bei der Bundeswehr nicht ein reißen lassen. "Ich plädiere dafür, dass Wehrpflichtige bei Dienstantritt über ihre Rechte erneut aufgeklärt werden. Das Prinzip der Inneren Führung muss gestärkt werden."
Aber nachdenklich macht Herrmann, dass Struck im Frühjahr einen Erlass zu Misshandlungen herausgegeben habe. "Gab es vielleicht schon damals Anlass oder gar konkrete Fälle?"
27./28.11.2004
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