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Neue Westfälische 07 - Gütersloh , 06.06.2014 :

Schüler sind Paten / 13 weitere Stolpersteine erinnern an Opfer des Nationalsozialismus

Von Marion Pokorra-Brockschmidt

Rheda-Wiedenbrück. Lehrer haben den Künstler Gunter Demnig gewarnt, dass Schülern das Thema Nationalsozialismus zu den Ohren heraus komme. Doch er hat das Gegenteil erlebt - auch gestern. Da erinnerten Jugendliche der Matthias-Claudius-Schule, der Ernst-Barlach-Realschule und des Einstein-Gymnasiums nicht nur an Schicksale der von Nationalsozialisten Verfolgten und Ermordeten. Sie sind auch Paten für Stolpersteine.

Schlägt man ein Buch auf und liest von sechs Millionen getöteten Juden sowie mindestens sechs Millionen von den Nazis aus anderen Gründen Ermordeten, dann bleibt diese Zahl abstrakt. Schaut man auf einzelne Schicksale, "ist das ein anderer Geschichtsunterricht", so Demnig. Er fügte den 23 Gedenksteinen, die er bereits in Rheda-Wiedenbrück verlegt hat, weitere 13 hinzu.

An der Widumstraße 13 erinnern fünf quadratische Messingplatten, auf denen die Lebensdaten der Nazi-Opfer stehen, an Rosalie Baltzer, geborene Cohn, und ihre ältere Schwester Ida Frank, die dort einst lebten. Sie rufen auch das Schicksal von Edith Cohn, ihrer jüngeren Schwester Anneliese sowie von deren älterem Bruder Siegfried Cohn ins Gedächtnis.

Der 1908 Geborene wanderte während der Nazi-Diktatur 1937 nach Bolivien aus. 1957 kehrte er zurück, mit seiner Frau Marina. Er betrieb ein Anglergeschäft in der Berliner Straße. Als er am 19. April 1987 starb, war Siegfried Cohn der letzte, der nach jüdischem Ritus auf dem Friedhof an der Wegböhne neben seinem Vater Kuno die letzte Ruhestätte fand.

Sieben Stolpersteine hatte Demnig bereits 2013 vor dem Haus Großer Wall 35 verlegt. Gestern platzierte er neben den bereits oxidierten Messingplatten fünf weitere: für Max, Johanna und Salomon Goldschmidt, für Amalie Graf sowie für Carmen Briska Simon. Die Patenschaft für diesen Stolperstein hat die Matthias-Claudius-Schule übernommen. "Mit unserer Aktion möchten wir dazu aufrufen, gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Hass auf andere Lebensentwürfe einzutreten, damit sich die schreckliche Geschichte niemals wiederholt", teilen sie mit.

Geboren wurde Carmen 1925 in Bonn. Weil ihre Mutter mittellos war, gab sie sie in ein Heim. Mit sechs Jahren nahm Familie Goldschmidt Carmen als Pflegetochter an. Sie besuchte die evangelische Volksschule, heute Wenneberschule, eingetragen im Schülerverzeichnis als Carmen Goldschmidt. Später kam das Mädchen in eine Ausbildungsstätte für Israel-Auswanderer nach Neuendorf. Doch sie wurde von Berlin nach Auschwitz verschleppt und am 16. März 1943 von SS-Leuten ermordet - mit 17 Jahren.

Die Ernst-Barlach-Realschüler erinnerten bei der Verlegung von vier Gedenksteinen an der Oelder Straße 10 an Familie Hofmann, die 1932 nach Rheda zog, weil der Vater eine Anstellung bei der Firma "Gebr. Thalheimer Sperrholzfabrik" (heute Westag & Getalit AG) gefunden hatte. Sohn Leo Leon erlebte mit zwölf Jahren, wie beim Pogrom von 1938 die Wohnung zerstört wurde. Mit seinem Bruder Egon floh er 1939 nach Holland, seine Eltern folgten ihnen. Sie wurden verhaftet. "Er war fast in unserem Alter, als er am 15. Juli 1942 mit seiner Familie in das Vernichtungslager nach Auschwitz deportiert und ermordet wurde", sagten die Schüler. Sie sind stolz, Teil des Stolperstein-Projektes zu sein, weil sie einen Einblick in die Rhedaer Geschichte erlangen. Aber auch, "weil wir eine Erinnerung schaffen an die Zeit des Holocaust".

Info / 47.000 Stolpersteine in 18 Ländern

1993 hatte Gunter Demnig die Idee zum Stolperstein-Projekt, den ersten verlegte er "illegal", wie er sagte, 1996 in Berlin, seit 2000 ist der Künstler offiziell mit seiner Aktion in Städten unterwegs.

Inzwischen hat er in 18 Ländern Europas rund 47.000 Stolpersteine - wie er auf diesen Namen kam, weiß er nicht mehr - verlegt und ist dabei, eine Stiftung zu gründen.

"Wer stolpert, schaut hin", sagte Bürgermeister Theo Mettenborg. Die Stolpersteine veranlassten die Bürger, den Kopf zu senken, zu lesen und nachzudenken - "über das düsterste Kapitel unserer jüngeren Geschichte", um daraus zu lernen, hofft er.

Bildunterschrift: Widumstraße 13: Gunter Demnig zeigt zwei Stolpersteine mit den Lebensdaten von Ida Frank (geborene Cohn, 1943 im Alter von 74 Jahren ermordet) und Rosalie Baltzer (geborene Cohn, 1942 nach Theresienstadt deportiert und 1943 im Alter von 72 Jahren gestorben).

Bildunterschrift: Großer Wall 35: Ingo Rehfeldt legt auf die glänzenden und oxidierten Platten weiße Rosen. Hinter ihm steht Niklas Blomberg.


rheda-wiedenbrueck@nw.de

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