www.hiergeblieben.de

Gütersloher Zeitung / Neue Westfälische , 26.11.2004 :

Tod im Ein-Mann-Loch / Vor 60 Jahren: Bombenangriff auf Gütersloh / Hildegard Wißmann erinnert sich

Gütersloh (raho). Nach den Gottesdiensten am Morgen liegt scheinbar friedliche Stille über der Stadt. Die Luft ist klar und kalt an jenem 26. November vor 60 Jahren. Vereinzelte Wolkenschleier vermögen den strahlend blauen Himmel kaum zu trüben. "Es war ein herrlicher Sonntag", erinnert sich Zeitzeugin Hildegard Wißmann. Doch nur bis 11.40 Uhr. Dann erlebt Gütersloh den bis dahin schwersten Luftangriff während des Zweiten Weltkriegs, der 80 Menschenleben fordert.

In der Stadt heulen Sirenen auf. Fliegeralarm. Der in Lintel untergebrachte Luftwarnsender "Primadonna" meldet hektisch: "Achtung, höchste Gefahr für Gütersloh! Anflug in mehreren Wellen."

Um 12.17 Uhr, so hat es der " örtliche Luftschutzleiter", Bürgermeister Josef Bauer, in einem Protokoll "nur für den Dienstgebrauch" festgehalten, begann der Angriff der 8. US-Luftflotte. Ziel seien eigentlich die Bahnanlagen gewesen, so der frühere Eisenbahner Rudolf Herrmann. Doch getroffen wurden vor allem Gebäude der Bevölkerung. In der Vergangenheit, zumal an Jahrestagen, wurde insbesondere an die Zerstörung der Apostelkirche erinnert. Allein dort verloren 19 Menschen ihr Leben, die im Turm Schutz gesucht hatten.

Aber auch fast 1.000 Wohnhäuser wurden entweder komplett in Schutt und Asche gelegt (80) oder leicht bis schwer beschädigt (900). Zu dem prominentesten Todesopfern zählten Sanitätsrat Dr. Leopold Kranefuß und seine Frau Ella, die an der Eickhoffstraße unter den Trümmern ihrer Villa begraben wurden.

Ein besonders tragischer Fall ereignete sich an der Feldstraße (früher Hindenburgstraße). Getötet wurde dabei der hoch angesehene Lehrer des Evangelisch Stiftischen Gymnasium (ESG) Friedrich Ernst Billig, der mit seiner Frau und seinen beiden Kindern das Haus Nummer 14 gegenüber dem ESG bewohnte.

Während die Nachbarn nach dem Fliegeralarm in den Luftschutzkeller des ESG-Direktor-Hauses an der Feldstraße 16 flüchteten, versuchte Billig, der laut früherer Zeugenberichte eben noch im Gymnasium am Stundenplan gearbeitet hatte, sich in einem von ihm selbst gegrabenen "Ein-Mann-Loch" im Garten seines Hauses in Sicherheit zu bringen. "Er wollte auf keinen Fall in den Keller, weil er Angst hatte, verschüttet zu werden", erinnert sich Hildegard Wißmann (79), Tochter des damaligen ESG-Direktors Dr. Friedrich Fliedner.Ausschlag gebend dafür seien vermutlich seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg gewesen. Billig war an der Westfront verwundet und wegen seiner Gehbehinderung nicht zur Wehrmacht eingezogen worden.

Seine Entscheidung kostete Billig das Leben. Mitten im Garten des Hauses ging eine von 212 Sprengbomben nieder. "Da war hinterher ein riesengroßes Loch", so Hildegard Wißmann. Die Wucht der Detonation und die Luftverwirbelungen "müssen enorm gewesen sein". So fand sich die Aktentasche des Studienrats auf dem Pättken hinter dem Garten wieder, sein Hut lag hingegen auf der Feldstraße.

Was noch blieb, war die Erinnerung an einen "hervorragenden Pädagogen, der sich durch Güte, Gerechtigkeit und außerordentlichen persönlichen Fleiß auszeichnete", wie eine heimische Zeitung 1969 schrieb. Billig, 1895 in Erfurt geboren, war 1928 nach Gütersloh kommen. Er unterrichtete Mathematik, Physik und während des Krieges auch Biologie.

Sein Sohn Wolfgang, der den Angriff am Totensonntag gemeinsam mit seinem Bruder und seiner Mutter unter dem Direktorhaus überlebte und später Kirchenbaurat in Darmstadt wurde, war in geradezu symbolträchtiger Weise am Wiederaufbau in Gütersloh beteiligt: An der früheren Wirkungsstätte seines Vaters setzte er als Maurergeselle den Schlussstein des neu errichteten Schulflügels, der am 21. November ebenfalls schwer beschädigt worden war.

Getroffen wurde zudem die Aula des Gymnasiums, die gegenüber der Schule (heute Parkplatz am früheren Radio-Gütersloh-Standort) stand. "Wir haben anschließend die Orgelpfeifen aufgesucht", berichtet Hildegard Wißmann. "Aber da war nichts mehr zu retten".

Die damals 19-Jährige leistete Kriegseinsatz als Inspektorin im Alumnat II an der Barkeystraße. "Als wir die Bomben pfeifen hörten, flüchteten wir mit den Schülern in den Keller der Brauerei." Nach dem verheerenden Angriff, der nach drei Minuten vorbei war, erlebte die Studentin die nächste Schrecksekunde: "Es hieß, mein Vater sei umgekommen." Hildegard Wißmann rannte nach der Entwarnung hinüber zum elterlichen Haus und konnte aufatmen: Der Vater lebte.

Es dauerte nicht lange, bis die Nachricht von der Zerstörung der Apostelkirche die Menschen an der Feldstraße erreichte: "Wir waren zutiefst bestürzt über so viele Todesopfer, sind aber nicht dorthin gegangen, sondern haben bei uns und in der Schule mit den Aufräumarbeiten begonnen."

Hildegard Wißmann hat auch die weiteren schweren Angriffe auf Gütersloh Ende Januar und am 14. März 1945 mit- und überlebt, als erneut Bomben über der Feldstraße niedergingen. Wie schwer hat sie unter diesen Kriegseignissen gelitten? "Wir waren einfach froh, noch da zu sein. Und wir wussten, überall gab es solche Angriffe. Viel darüber gesprochen haben wir nicht", sagt die 79-Jährige.


lok-red.guetersloh@neue-westfaelische.de

zurück