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Mindener Tageblatt , 17.11.2004 :

"Hunger ist schlimm, er tut schrecklich weh" / Wülpker Manfred Kluß hat vor 60 Jahren viel Leid erfahren, seinen Optimismus aber nie verloren / Keine Rachegefühle

Von Wilhelm Gerntrup

Porta Westfalica-Wülpke (gp). Mit Jammern und Selbstmitleid hat Manfred Kluß nichts im Sinn. "Manchmal denke ich, wenn ich die Leute klagen höre, ob die überhaupt wissen, was echte Not ist", sagt er freundlich und ohne Besserwisserei.

Der 69-jährige Wülpker weiß, wovon er spricht. In ganz besonderer Weise haben er und seine Familie Leid, Hunger und Gewalt erfahren. In diesen stillen Novembertagen, eingerahmt von Volkstrauertag und Totensonntag, ist die Erinnerung an diese schwere Zeit besonders präsent.

Es begann, als im Frühjahr 1945 die Russen auf Breslau vorrückten. Es war ein bitterkalter Winter. Der Vater war im Krieg. Der Mutter, damals gerade 34 Jahre alt, war die Flucht ins Ungewisse mit sechs kleinen Kindern zwischen fünf und elf Jahren zu riskant. Zusammen mit einer Handvoll anderer deutscher Familien blieb sie im Vorort Stabelwitz zurück.

Kurz darauf wurde Breslau zur Festung erklärt. Ein Entkommen war nicht mehr möglich. Monatelang ging die Front hin und her. Haus und Umgebung der Kluß lagen unter Dauerbeschuss. Mal rollten die russischen Angreifer, dann wieder die Deutschen über sie hinweg. "Überall lagen tote Soldaten", erinnert sich Manfred Kluß. "Blutjunge, unschuldige Burschen." Auf deutscher Seite seien zuletzt hunderte von Hitlerjungen regelrecht verheizt worden.

Das Ende der Häuserkämpfe überlebten die Kluß im Keller der nahe gelegenen Schule. "Wir blieben immer zusammen", beschreibt Kluß die Überlebensstrategie. "Selbst nachts auf der Kellerpritsche klammerten wir uns dicht aneinander." Das hinderte die oft betrunkene russische Soldateska nicht, sich immer wieder an der Mutter zu vergreifen. Die Sieben zogen von Versteck zu Versteck.

Dem zehnjährigen Manfred fiel so etwas wie die Rolle des "Familienoberhaupts" zu. Mit Ausnahme einer ein Jahr älteren Schwester waren die anderen vier Kinder noch jünger als er. "Nachts bin ich regelmäßig raus, um etwas Essbares zusammen zu suchen."

Schikaniert, gejagt und geschlagen

Gegen Ende 1945 verschwanden die Russen in den Kasernen. Haus um Haus zogen Polen in das zuvor ausschließlich von Deutschen bewohnte Stadtviertel ein. Die meisten waren Heimatvertriebene und von den Sowjets aus ihren ostpolnischen Dörfern verjagt worden.

Das Gröbste, so die Erwartung der in Breslau zurückgebliebenen Deutschen, sei nun überstanden. Bei den Kluß wuchs die Hoffnung, dass der Vater bald zurückkommen und mit ihm ein neues Leben beginnen würde. Doch beides erwies sich als Irrtum. "Wir wurden schikaniert, gejagt und geschlagen", so Kluß.

Das Schlimmste aber sei der Hunger gewesen. "Ein ganzes Jahr lang haben wir praktisch nur von gekochten Brennnesseln, Beeren und Kräutern gelebt." Auch Spatzen habe man, solange es welche gab, verzehrt.

Brennnesseln, Beeren und Spatzen gegessen

"Hunger ist schlimm – er tut schrecklich weh", hat Manfred Kluß damals erfahren. Nachtsüber zogen er und die Mutter los, um den Polen Obst und Kartoffeln zu stehlen. "Wir hausten wie die Tiere und waren wohl auch wie sie."

Immer mehr schwand die Hoffnung, dass der Vater zurückkommen würde. Doch dann, im Juni 1946, hielt das Schicksal eine plötzliche, überraschende Wende bereit. Familie Kluß erreichte die Nachricht, dass der Ehemann und Vater noch lebte und im Westen in einem Ort namens Nammen auf sie warte. Und fast gleichzeitig bekamen sie Bescheid, dass sie kurzfristig weggeschafft würden.

Mit dem letzten Hab und Gut auf dem Rücken rüsteten Hildegard Kluß und die Kinder zum Abtransport. Zusammen mit über 1.000 anderen Deutschen wurden sie im Bahnhof Deutsch-Lissau in Viehwagons verfrachtet. Die Reise dauerte sieben Tage.

Bei einem Zwischenstopp nahm man ihnen die letzten Habseligkeiten weg. Nach der Ankunft im Auffanglager Helmstedt-Marienborn gab es zum ersten Mal nach fast eineinhalb Jahren wieder "etwas Richtiges" zu essen. Von dort aus bis zum Wiedersehen mit dem Vater ging alles sehr schnell.

Wehmut und Trauer bei Rückkehr nach Breslau

Ganz allmählich begann sich das Leben der achtköpfigen Familie wieder in geordneten Bahnen zu bewegen. Manfred Kluß wurde selbstständiger Malermeister. 1956 führte ihn die Liebe zu seiner Frau Adelheid nach Wülpke.

Dort engagierte er sich im Gemeinderat, singt seit über 50 Jahren im Männergesangverein mit und gehört seit gut 35 Jahren dem Schützenverein und der Feuerwehr an. "Nebenbei" leitet er den örtlichen Seniorenklub. "Es gibt nur wenige wie ihn", sagen die Leute im Dorf. "Er gehört zu unseren Engagiertesten und Besten."

Manfred Kluß tut sich mit solchen Lobeshymnen und mit großen Worten insgesamt schwer. Das Leben sei viel zu schön und zu kurz, um als Nörgler und Pessimist durch die Welt zu laufen, so seine Devise. Auch Rache oder Hass gegenüber denen, die ihn und seine Familie einst verfolgt und weggejagt haben, empfindet er nicht.

Vor vier Jahren zog es ihn zum ersten Mal nach Breslau zurück. Er habe viel Wehmut und Trauer verspürt, bekennt Kluß, er sagt aber auch: "Meine Heimat ist jetzt hier in Wülpke." Was damals passiert sei, sei inzwischen Geschichte. "Irgendwann muss man nach vorn blicken."


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