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Junge Linke Lippstadt , 09.11.2004 :

Redebeiträge zum 9. November

Etwa 30 Personen sammelten sich trotz ununterbrochenem Regen heute um 17.00 Uhr in Lippstadt zu einer Gedenkkundgebung zum 66. Jahrestag der Reichspogromnacht. Auf der Kundgebung wurden insgesamt drei Redebeiträge verlesen, die sowohl die Aktualität des Antisemitismus als auch seine Geschichte erläuterten. Besonders kritisiert wurde im zweiten Redebeitrag der Jungen Linken Lippstadt der Umgang mit der deutschen Vergangenheit, der deutsche Geschichtsrevisionismus und der latent bis offen auftretende Antisemitismus (Karsli, Walser, Hohmann, Möllemann ... etc.). Im folgenden möchten wir die zwei Redebeiträge der Jungen Linken Lippstadt dokumentieren.



Liebe Lippstädterinnen und Lippstädter,

ich möchte sie recht herzlich zu der heutigen Gedenkveranstaltung, die zum 66. Jahrestag der Reichspogromnacht stattfindet begrüßen.

Wir haben uns heute hier versammelt, um den Opfern des Nationalsozialismus zu gedenken. Einen besonderen Augenmerk richten wir dabei auf die Verfolgung der Juden, welche als Opfergruppe dem Vernichtungswahn ausgesetzt waren. Schon vor der Machtübernahme der Nazis war ihr eliminatorischer Antisemitismus bekannt, gehörte er doch zum integralen Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie. Schon unmittelbar nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler kam es zu ersten antijüdischen Gesetzen, welche auch in Lippstadt ihre Umsetzung fanden. So stand am 1. April 1933 im Patrioten und der Lippstädter Zeitung ein Aufruf abgedruckt, in dem zum alleinigen Kauf deutscher Produkte, also dem Boykott jüdischer Geschäfte, aufgerufen wurde.

Als im Jahr 1935 die sog. Nürnberg Gesetze in Kraft getreten sind, waren auch schnell Lippstädter Juden von ihnen betroffen. So wurde Max Levy unter dem Vorwurf, sich mit einer Arierin eingelassen zu haben, von einem Volksgenossen angezeigt. Sein Verhalten wurde als Rassenschändung betrachtet. Aufgrund der unzähligen Schikanen sah er sich schnell dazu gezwungen, sein Manufakturwarengeschäft in der Cappelstrasse aufzugeben.

Als es am 7. November 1938 zu einem Attentat auf einen deutschen Geschäftsmann in Paris kam, wurden die Juden kollektiv dafür verantwortlich gemacht. Die Folge war die wohl schrecklichste Nacht in der deutschen Geschichte, die Reichspogromnacht von den 9. auf den 10. November 1938.

Wie in vielen anderen deutschen Städten auch kam es in Lippstadt zu der Niederbrennung der Synagoge. Sämtliche jüdischen Geschäfte in der Stadt wurden demoliert, der Pferdehändler May Cohn wurde auf offener Strasse zusammengeschlagen.

Schließlich wurden 23 jüdische Männer aus Lippstadt festgenommen und in das Konzentrationslager Oranienburg deportiert. Zwei der Verhafteten, die Brüder Ludwig und Max Levi kamen nur noch zum Sterben nach Lippstadt zurück. Immer neue Erlasse machten das Leben für Juden unerträglich. So mussten die Opfer der Reichspogromnacht für den an ihnen begangenen Schaden selber aufkommen und eine Milliarde Reichsmark an das deutsche Reich zahlen.

Als am 1. September 1939 der deutsche Überfall auf Polen begangen wurde und der Zweite Weltkrieg begann, waren von den 107 einst in Lippstadt lebenden Juden noch 52 geblieben. Für sie erwies sich der Aufenthalt im Reichsgebiet immer mehr als Falle, aus der es kaum noch möglich war, lebend zu entfliehen. Die ab September 1941 für alle Juden geltende Kennzeichnungspflicht, vereinfachte die in der Wannseekonferenz beschlossene Endlösung der Judenfrage enorm.

Anfang April 1942, kurz vor beginn der Deportationen aus dem Kreis Lippstadt, lebten noch 18 Personen jüdischen Glaubens in der Stadt. Die meisten von ihnen waren Frauen, welche in einem kriegswichtigen Betrieb zur Arbeit gezwungen wurden. Ende April 1942 wurde eine erste Gruppe von fünf Personen zusammen mit anderen jüdischen Bürgern des Kreisgebietes in einem Sammeltransport nach Dortmund gebracht und von dort aus mit ungefähr 1.000 weiteren Jüdinnen und Juden aus Westfalen in das Vernichtungslager Belzec deportiert.

Die noch verblieben 13 Personen wurden Ende Juli desselben Jahres zusammengetrieben und in nach Theresienstadt gebracht. Jüdisches Leben, welches einst wie selbstverständlich die Stadt Lippstadt geprägt hatte, gab es nicht mehr.

Im Gedenken an die Opfer des Faschismus bleibt die Erinnerung an die an ihnen begangenen Verbrechen unsere Pflicht.

Vielen Dank für das Zuhören!



Liebe Lippstädterinnen und Lippstädter,

in dem vorangegangen Redebeitrag haben wir bereits etwas über die Geschehnisse am 9. November 1938 erfahren, als es in Lippstadt, wie im gesamten damaligen Reichsgebiet, zu pogromartigen Ausschreitungen gegen die jüdische Minderheit gekommen ist.

Unter der Begeisterung eines wahnhaften Mobs, der nicht nur aus überzeugten Nationalsozialisten bestand, kam es zu Übergriffen, Verhaftungen und schließlich dem Niederbrennen der Synagoge, die sich an dieser Stelle befand.

Wenn wir uns heute hier versammeln und an diesem symbolträchtigen Datum den Opfern des Faschismus gedenken, geht es auch darum aus der Geschichte zu lernen und in der Gegenwart dafür Verantwortung zu tragen, dass es nie wieder zum Faschismus kommt.

Spätestens hier wird man aber mit der Frage konfrontiert, wie es denn zu der Herrschaft der Nationalsozialisten überhaupt erst kommen konnte. Gerade in der deutschen Variante des Faschismus spielte der Antisemitismus eine besonders elementare Rolle, stellte dieser doch die verbindende Klammer in der Volksgemeinschaft dar.

Das Phänomen des Antisemitismus reicht schon Jahrtausende zurück. Seit der Diaspora wurde den Juden eine Sündenbockfunktion zugeschrieben. Den Schuldigen für Wirtschaftskrisen, der Pest oder Revolutionen machte man schnell im halluzinierten "Weltjudentum" aus. Viele Christen sahen im Juden den "Christusmörder" und somit den Feind ihrer Religion. Während des aufgeheizten Klimas der Kreuzzüge im elften bis dreizehnten Jahrhundert kam es zu schweren Ausschreitungen und Massenmorden an jüdischen Menschen und der Vernichtung ganzer jüdischer Gemeinden.

Die antisemitische Grundstimmung, verstärkt durch diverse Hetzschriften, veranlasste im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele Juden zur Abkehr von ihrer Religion. Und schon zu dieser Zeit zeigte sich, dass der Antisemitismus sehr anpassungsfähig ist. Mit der beginnenden Aufklärung und der zunehmenden Säkularisierung modifizierte sich der Hass auf Juden von der vormals religiös bestimmten zu einem rassistisch-biologistischen begründeten Ressentiment. Von nun an galten die Juden als eigene "Rasse".

Diese Denkweise prägte insbesondere die Ideologie des Nationalsozialismus.

Während sich Polen oder Russen als Untermenschen den deutschen Herrenmenschen fügen mussten, wurde der Jude als "Gegen-Mensch" wahrgenommen. In einer wahnhaften Projektion sah man in ihm die Ursache für tatsächlichen oder vermeidlichen Übel in der Gesellschaft.

"Was der Antisemit will, ist die Vernichtung der Juden", stellte Jean Paul Sartre so einfach wie richtig fest. Auch nach 60 Jahren der intensiven Forschung ist es nur begrenzt möglich das Unvorstellbare, wofür Auschwitz nur als Synonym steht, zu erklären. Doch gerade in Bezug auf die rasante Zunahme von Rechtsextremismus und Antisemitismus in den vergangenen Zeit ist es äußerst wichtig, die richtigen Schlussfolgerungen aus der Geschichte zu ziehen um dem erstarkenden Faschismus effektiv Widerstand leisten zu können.

Es wäre fatal die Gefahr eines erneuten Faschismus herunter zu spielen. Insbesondere in Zeiten der kapitalistischen Krise erlebt der schon lange für Tod befundene Antisemitismus eine neue Hochkonjunktur. Die Schuld für die ökonomische Krise wird dabei direkt den Juden zugeschrieben, da diese als raffgierige Finanzkapitalisten die Wirtschaft steuern würden und den schaffenden deutschen Arbeiter ausbeuten, so das gängige Muster.

Der Glaube an die besondere Macht einer "jüdisch-zionistischen Lobby", also einer "jüdischen Weltverschwörung", ist bis heute vorhanden. So ist man vielerorts der Auffassung man werde durch die "Moralkeule Auschwitz" bedroht und eine agierende "Holocaust-Industrie" hätte sich die Knechtung des "deutschen Volkes" auf die Fahnen geschrieben. Die Opfer der nationalsozialistischen Barbarei, die 60 Jahre danach oftmals immer noch keine Entschädigung erhalten haben, werden als geldgierige Ausbeuter wahrgenommen.

Doch dieser offen artikulierte Hass auf Juden verlässt bislang relativ selten die Stammtischrunde.

Sehr viel häufiger zu hören ist eine latente Form des Antisemitismus, in der dem Staat Israel, der als Konsequenz aus dem Holocaust überhaupt erst gegründet werden musste, die größte Gefahr für den Weltfrieden zugeschrieben wird.

Doch auch weltweit ist es seit den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center durch die Al-Qaida zu einer Zunahme antisemitischer Gewalttaten gekommen. Der Angriff auf das Symbol des Welthandels bediente das Klischee vom "Weltjudentum" und dem "jüdischen Finanzkapital", dass eine "zionistische Weltherrschaft" anstrebe und seinen Sitz an der "Ostküste" habe. Die Anschläge vom 11. September lösten einen Boom verschwörungstheoretischer Literatur aus, welche in ihrer Quintessenz immer auf die gleiche Aussage hinausläuft: der israelische Geheimdienst Mossad und die CIA haben die Finger im Spiel gehabt, um ihre Kriegspolitik zu legitimieren.

Eine andere gängige Form des Antisemitismus ist die Leugnung der Singularität des Holocausts. So sehen viele Leute längst im US-Präsidenten George W. Bush einen "neuen Hitler". Aber auch von der rot-grünen Bundesregierung ging eine nicht hinnehmbare Relativierung der Shoa aus, als sie 1999 den Kosovo-Krieg mit der Verhinderung eines "zweiten Auschwitz" begründete und den ersten deutschen Angriffskrieg nach dem Nationalsozialismus führte. Jamal Karsli bewies das diese Relativierung noch zu toppen ist, als er dem Staat Israel "Nazi-Methoden" vorwarf, wodurch er Israel auf eine Stufe mit dem Nationalsozialismus setzte.

Karsli veröffentlichte mittlerweile ein Buch namens "Maulkorb für Deutschland", in dem er Walsers "Moralkeule Auschwitz" nun als "Maulkorb" präsentiert. Ihm nahe stehen mag der Antisemit Martin Hohmann, der es gar nicht mehr nötig hatte, sich hinter einer vermeintlichen Israel-Kritik zu verstecken sondern gleich Juden als "Tätervolk" servierte. Sein Bekenntnis zu Deutschland blieb hier selbstverständlich nicht aus.

Erschreckend ist in diesem Kontext, dass nicht nur der Antisemitismus zunimmt, sondern auch der Nationalismus und die Akzeptanz für eine weitere Militarisierung. Die offen artikulierten Ambitionen in der deutschen Politik und Wirtschaft, endlich wieder zu den ganz großen Nationen gehören zu wollen, scheint auf ebenso wenig Widerspruch zu stoßen, wie die Forderung, dass endlich ein Schlussstrich unter die deutsche Geschichte gezogen werden müsse.

Auf die Gefahren, die sich daraus ergeben, muss nicht erst hingewiesen werden. Unsere Aufgabe muss es sein, vor diesen Gefahren zu warnen und sich der reaktionären Entwicklung entgegenzustellen, auch wenn davon heute kaum einer noch etwas hören möchte. Es gilt, wie der Holocaust-Überlebende Peter Gingold es formulierte, dafür zu sorgen, dass die Menschen auch in tausend Jahren noch wissen, was in Auschwitz passiert ist und was Faschismus bedeutet. Diese Erinnerungen dürfen nicht verloren gehen.

Vielen Dank für das Zuhören!



Fotos finden sich unter:

http://de.indymedia.org/2004/11/98176.shtml


lijuli@web.de

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