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Herforder Kreisblatt / Westfalen-Blatt , 19.06.2013 :

Anonyme Zettel gegen Behindertenheim / Unbekannte protestieren gegen Lebenshilfe-Projekt - Anwohner sind empört - Kripo prüft

Herford (HK).Am Morgen waren sie plötzlich da: Fast an jedem Mast rund um die Rennstraße prangte ein Zettel, der sich gegen den dort geplanten Bau des Behindertenheims der Lebenshilfe richtete. Unterzeichnet waren sie im Namen der Anwohner. Die reagierten entsetzt und distanzierten sich von der Tat.

Von Moritz Winde

Wörtlich stand auf den weißen DIN-A4-Bögen in korrekter deutscher Sprache geschrieben: "Wir wollen keine Lebenshilfe-Einrichtung für Behinderte auf dem Gelände des ehemaligen Fotogeschäftes Ilsemann." Der Verfasser führt als Grund den Denkmalschutz an.

Wie berichtet, hat die Lebenshilfe die beiden Häuser in der City gekauft, um sie abzureißen und für drei Millionen Euro ein dreigeschossiges "Lebenshilfecenter" zu bauen. Auf etwa 1.500 Quadratmetern sollen die Angebote des gemeinnützigen Vereins in Herford konzentriert werden. Neben Beratung und Begegnung sollen auch Appartements und stationäre Einrichtungen für etwa 16 schwerbehinderte Menschen entstehen.

Stephan Steuernagel, Geschäftsführer der Lebenshilfe, sagte zum anonymen Protest gestern: "Wir haben damit gerechnet, dass einige Leute von den Plänen nicht begeistert sind. Dieser Widerstand ist zwar erschütternd, trotzdem bleiben wir gelassen. Denn unserer Meinung nach sind das Einzelfälle. Wir erhalten von allen Seiten auch sehr viel Zuspruch." Allerdings müsse die Situation weiter beobachtet werden. Bereits in der vergangenen Woche war ein Zettel mit massiven Verunglimpfungen gegenüber Behinderten aufgetaucht. Die Lebenshilfe, sagte Steuernagel, sei jederzeit zum Dialog bereit, um über das Bauvorhaben zu informieren.

Rechtsanwältin Marion Wöhler hat ihr Büro direkt gegenüber dem ehemaligen Fotogeschäft Ilsemann. Sie ist entsetzt über die Parolen: "Dieser offene Protest gegen Behinderte ist eine ganz üble Sache, die wir so nicht stehen lassen. Uns hat keiner gefragt, ob wir diese Meinung vertreten." Um ihren Widerstand gegen die Zettel-Aktion zu demonstrieren, versammelten sich gestern Morgen mehr als ein Dutzend Anwohner und Geschäftsleute und zeigten sich solidarisch mit der Lebenshilfe.

Auch Martina Nickles, Behindertenbeauftragte der Stadt Herford, ist fassungslos. "Das ist ein Unding, schlichtweg diskriminierend. Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas in Zeiten passieren kann, in denen Inklusion zunehmend positiv bewertet wird und die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung eigentlich auf einem guten Weg ist."

Bürgermeister Bruno Wollbrink ruft unterdessen zu Besonnenheit auf: Die wahre Stärke einer Stadt zeige sich in ihrer sozialen Kompetenz. Dazu gehöre auch, wie man mit Menschen umgeht, die Unterstützung benötigen. "Wenn wir die Vielfalt der Menschen annehmen und nutzen, dann profitieren alle davon!"

Inzwischen hat sich die Herforder Kriminalpolizei eingeschaltet. Sprecher Uwe Maser sagte: "Wir prüfen, ob dieser Vorfall von strafrechtlicher Relevanz ist." Die Zettel sind mittlerweile weitgehend verschwunden. Anwohner haben die mit Kleister befestigten Bögen abgekratzt und entsorgt.

Bildunterschrift: "Wir wollen keine Lebenshilfe-Einrichtung für Behinderte auf dem Gelände des ehemaligen Fotogeschäftes Ilsemann", steht auf den Zetteln, die jemand an Ampeln, Laternen und Stromkasten in der Innenstadt geklebt hat. Die Kriminalpolizei prüft derzeit, ob die Tat strafrechtliche Konsequenzen hat.

Bildunterschrift: Anwohner und Geschäftsleute distanzieren sich von den diskriminierenden Zetteln. Mit dabei sind: Peter Sturm, Ramon Wagner, Maik Gülker, Dirk Trampe, Stephan Schneider, Peter Maier, Susanne Gotzmann, Dr. Uwe Mohn, Carsten Burchardt, Rainer Hildebrand, Marion Wöhler, Sandra Stöckel, Petra Fischer, Matthias Gestring, Simon Bunte, Guido Heimann und Klaus Markmann.

Kommentar / Dreist und feige

Es ist nicht zu glauben: Gerade noch hat sich Herford als Gastgeber des Internationalen Hansetages weltoffen und tolerant präsentiert. Nur zwei Tage später sind einige Straßen in der Innenstadt mit Zetteln verunstaltet, auf denen - unter dem fadenscheinigen Argument des Denkmalschutzes - Stimmung gegen das Behindertenwohnheim an der Rennstraße gemacht wird.

Auch wenn es vermutlich die Nacht- und Nebelaktion eines Einzelnen oder weniger war: Diese diskriminierende Botschaft ist für ganz Herford ein Schlag ins Gesicht. Sie schockiert und macht wütend. Besonders feige ist die Tatsache, dass die Botschaft unter dem Deckmantel der Anonymität veröffentlicht wurde. Ehrliches wäre es allemal, offen zu seiner Meinung zustehen. Stattdessen wird der gute Ruf zahlreicher Anwohner, in deren Namen dreist unterzeichnet wurde, in den Dreck gezogen.

Umso erfreulicher ist es, dass die umliegenden Geschäftsleute auf der Stelle reagiert haben und sich offensiv von der Tat distanzieren. Mehr noch: Viele haben die Zettel von Laternenpfählen und Ampelmasten abgerissen. Das ist ein gutes Signal der Solidarität. Es zeigt, dass diskriminierende Meinungen in Herford von den meisten nicht geduldet werden.

Moritz Winde


herford@westfalen-blatt.de

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