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Zeitung für Halle und Borgholzhausen / Westfalen-Blatt , 04.04.2013 :

Steinerne Zeugen helfen zu erinnern / Vor 80 Jahren forcierten die Nazis ihre Aktionen gegen die Juden - 1937 flüchtet die letzte Familie aus Pium

Von Mark Hänsgen

Borgholzhausen (WB). "Juden ist die Benutzung untersagt" verkündete zur NS-Zeit ein Schild am Freibad. 1937 kehrten die Weinbergs dem Ort wegen des zunehmenden Drucks den Rücken. Sie waren in Borgholzhausen die letzte von drei verbliebenen jüdischen Familien. Damit endete eine 350-jährige Kulturgeschichte. Das Westfalen-Blatt ging auf Spurensuche.

"Die letzten Juden sind weg!" sollen Kinder damals dem rollenden Umzugswagen der Familie Weinberg hinterher gerufen haben. "Ich vermute, sie sind sehr schweren Herzens von hier gegangen. Sie fühlten sich einfach nicht mehr sicher", erzählt Eva-Maria Eggert. Die Geschichtslehrerin möchte das Gedenken an die vertriebenen jüdischen Familien wach halten, deren Angehörige größtenteils Opfer des Holocausts geworden sind. Die 55-Jährige bietet eine Stadtführung zur langen Geschichte der Borgholzhausener Juden an und wünscht sich eine Erinnerungsstätte.

"Natürlich haben wir den alten Friedhof. Aber bisher gibt es in Borgholzhausen keine Stolpersteine, die an die NS-Opfer erinnern", sagt sie. Auch Gedenktafeln an früheren Lebensorten oder ein zentrales Mahnmal vermisse sie. Nur all jene, die wüssten, wo sie suchen müssen, fänden noch immer an vielen Orten Spuren des vergangenen jüdischen Lebens. Neben dem bekannten jüdischen Friedhof an der Bahnhofstraße - der zweitälteste in Minden-Ravensberg und letzte Ruhestätte für Verwandte Paul Spiegels, des ehemaligen Präsidenten des Zentralrats der Juden - ist besonders die einstige Synagoge im Klingenhagen 4 von Bedeutung. Das geschichtsträchtige Gebäude ist heute optisch verändert und wird als Wohnung genutzt, doch der Kellereingang des Sakralbaus mitsamt dem so genannten Opferstein ist noch gut zu erkennen.

Im Jahr 1937, während der Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung, verließ die Familie Weinberg Borgholzhausen - kurz vor der folgenreichen Pogromnacht am 9. November 1938 und den Deportationen in die Konzentrationslager. Die Geschichte der Piumer Juden reicht jedoch viel weiter zurück.
Für das 16. Jahrhundert gibt es noch keine Hinweise in der Grafschaft Ravensberg. Das änderte sich im 17. Jahrhundert mit der Ansiedlung von jüdischen Familien durch den Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, der auf diese Weise den Handel beleben wollte. Ein Kirchenbucheintrag weist darauf hin, dass bereits 1664 eine Familie im Ort gelebt hat. Darin ist zudem vermerkt, dass Bürgermeister Philipp tor Becke im Jahre 1694 ein jüdisches Mädchen mit dem Namen Eva Simon adoptiert, es christlich getauft und in Clara Beate umbenannt hatte.

Vor etwa 270 Jahren gab es dann eine Jüdische Gemeinde, die jedoch zu klein war, um eine Synagoge zu unterhalten. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs die Zahl der Familien auf elf. Daraufhin forderte sie die preußische Regierung in Minden auf, eine einfach organisierte Synagogengemeinde zu gründen. 1840 lebten schließlich 76 Juden in Borgholzhausen, die zwar keinen eigenen Rabbiner stellten, aber ihren Vorsteher selbst wählten. Zusammen mit dem jüdischen Lehrer war er für die Kultuspflege zuständig. Die Gemeinde leistete sich zwischen 1839 und 1860 einen Lehrer, der im Vorraum der Synagoge unterrichtete. Später konnte er nicht mehr bezahlt werden. Da die Zahl der Juden weiter abnahm (1875: 30 Menschen), musste 1930 sogar die Synagoge verkauft werden.

Die letzten drei Familien

Nach Angaben des Historikers Remigius von Boeselager sind 13 in Pium geborene Juden Opfer des Holocausts geworden. Zwei weitere waren durch Heirat zugezogen. Ingesamt sind 15 Menschen durch die Nationalsozialisten ums Leben gekommen. Die Betroffenen der letzten drei jüdischen Familien sind mit einem Kreuz markiert.

Familie Max Weinberg
Max Weinberg
Ehefrau Selma Weinberg †
Tochter Gisela Weinberg †
Sohn Heinz Robert Weinberg

Familie Jakob Hesse
Jakob Hesse
Ehefrau Elise Hesse †
Tochter Friederike Hesse †
Julius Stern
Enkelin Inge Stern
Gertrud Hesse

Familie Julius Hesse
Julius Hesse †
Ehefrau Jenny Hesse †
Tochter Ruth Blüte
Tochter Lore Hesse
Tochter Anneliese Hesse

Bildunterschrift: Der Friedhof mit 127 Grabsteinen an der Bahnhofstraße ist eine gemeinsame Anlage der Borgholzhausener und Versmolder Synagogengemeinde. Angehörige haben eine Gedenkplatte angebracht, die an das Ehepaar Julius und Jenny Hesse erinnert.

Bildunterschrift: Eva-Maria Eggert zeigt, wo sich bei dem Wohnhaus "Im Klingenhagen 4" der Eingang zur ehemaligen Synagoge verbirgt.

Bildunterschrift: In diesem Haus in der Tanfanastraße wohnten die Weinbergs.


halle@westfalen-blatt.de

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