Neue Westfälische ,
02.10.2004 :
Glaube an den "Führer" / Bärbl Wirrer aus Spenge gibt Briefwechsel ihrer Eltern heraus
Spenge (rec). Das Kino führt die verendende Kanaille vor. In den Apriltagen 1945 - die Russen dringen bis vor die neue Reichskanzlei vor - zerfallen Hitler und seine Macht. Goebbels setzt noch auf das Sternenglück, auf eine günstige Konjunktur der Planeten; einer der Widersacher, der US-Präsident Theodore Roosevelt, ist gestorben. Doch als sich die Amerikaner und die Russen bei Torgau an der Elbe die Hände reichen, ist Hitlers letzte Illusion verflogen, die "perverse Koalition zwischen den westlichen Plutokratien und dem Bolschewismus" könnte zu Deutschlands Gunsten im letzten Augenblick zerbrechen.
Was Hitlers Macht bis zu dessen letztem Atemzug, ja sogar noch einige Tage darüber hinaus zusammenhielt, die unbedingte Gefolgschaftstreue zum "Führer" in allen Schichten der nazideutschen Gesellschaft, kann der Film "Der Untergang" kaum deutlich machen. Einblicke in die nationalsozialistische Alltagsmentalität vermitteln persönliche Zeugnisse der "kleinen Leute", Briefe, Tagebuchnotizen, Aufzeichnungen.
Unter dem Titel "Ich glaube an den Führer" hat die pensionierte Gymnasiallehrerin Bärbl Wirrer aus Spenge Briefe ihrer Eltern aus den Jahren 1942 bis 1945 im Bielefelder Verlag für Regionalgeschichte herausgegeben - "ein einmaliges, fast lückenloses Dokument der Liebe, der Sorgen, der ideologischen Verbohrtheit und Blindheit zweier junger Nationalsozialisten", schreibt Wirrer im Vorwort.
Ihr Vater, der Wiener Alfred Molter, genannt Fred, geboren 1920, beschreitet einen nicht ungewöhnlichen Lebensweg. Um bedrückenden Familienverhältnissen zu entkommen, schließt er sich der in Österreich verbotenen nationalsozialistischen Bewegung an. Nach dem "Anschluss" tritt er in die "Wehrmacht" ein, wegen eines Fliegerunfalls 1942 bleibt ihm der Kriegseinsatz bis fast zu Kriegsende verwehrt, woran er seelisch immer wieder laboriert. "Deutscher bin ich doch, nur kommts mir eben vor, als stünde ich bei dem Krieg verflucht abseits", schreibt er 1943 aus Lippstadt an seine Inge.
Im Luftwaffenlazarett in Ragusa hatte er, nach der Notlandung verletzt eingeliefert, die Krankenschwester Ingeborg Heuer, geboren 1919, kennen gelernt. Ihr Vater, ein überzeugter Nazi, später an der Organisation des Einsatzes von Zwangsarbeitern beteiligt, parteigläubig wenigstens bis 1943, hatte für eine nachhaltige nationalsozialistische Erziehung seiner Kinder gesorgt. So trafen, was Hitlertreue, Endsieg-Zuversicht, Herrenrassen-Dünkel betrifft, zwei verwandte Seelen aufeinander.
140 der 1.381 erhaltenen Briefe hat Bärbl Wirrer für die Edition herausgesucht. In ihnen spiegeln sich Intimitäten, wie sich das Paar trotz unterschiedlicher Bildungsvoraussetzungen zusammenfindet; die Nöte langer Trennung; die ideologische Verarbeitung des Kriegsgeschehens, das längst nicht mehr mit "Blitzsiegen" glänzt, und wie man sich trotz allem Mut zuredet: "Es kann doch gar nicht sein, dass die Russen über unser Volk siegen sollen. Diese Horden über die deutsche Art?"
Wie eng privates Glück und Führerverehrung in einem Gedanken zusammenfließen, bezeugt Freds Silvesterbrief 1943: "Inge, wie schön bist Du, Du, wie glaube ich an den Führer."
Natürlich geistern auch vergebliche Hoffnungen auf militärische Wunder durch diese Briefe, Hoffnungen auf die neue Luftwaffe, auf des "Führers" unendliche Weisheit, der gewieft nur den günstigsten Augenblick abwarte, die Gegner nach Deutschland locke, um sie an allen Fronten vernichtend zu schlagen.
Der Aberwitz der Verblendung schlägt selbst noch in Augenblicken durch, zu denen die baldige Niederlage kaum noch zu leugnen war. In dem letzten erhaltenen Brief Freds vom 8. April 1945 liest man von seiner Sorge um Frau und Kind, von seiner Verzweiflung über den Feind, "diese Hunde, die so weit herkommen, denen wir nichts getan, und die uns gleich zertreten wollen". Seit den Kämpfen um Berlin in den folgenden Tagen - der Flugzeugoffizier im "Erdeinsatz", auch ein letztes Aufgebot - ist Fred verschollen.
Bärbl Wirrer (Hrsg.): Ich glaube an den Führer. Eine Dokumentation zur Mentalitätsgeschichte im nationalsozialistischen Deutschland 1942 - 1945. Verlag für Regionalgeschichte, 339 S., 24 Euro.
02./03.10.2004
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