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Bielefelder Zeitung / Westfalen-Blatt , 31.07.2012 :

Eine Reise in den Tod / 70. Jahrestag der jüdischen Deportation von Bielefeld nach Theresienstadt

Von Martin Decker

Bielefeld (WB). Heute vor 70 Jahren mussten 590 jüdische Menschen aus Ostwestfalen, Lippe und Schaumburg-Lippe am Bielefelder Bahnhof einen Zug nach Theresienstadt besteigen. 145 von ihnen kamen aus Bielefeld selbst. Es war die mit Abstand größte Deportation aus dem Gestapobezirk Bielefeld.

Wegen der großen Zahl richtete die Gestapo - nur bei dieser Deportation - seit dem 27. Juli 1942 zwei Sammellager in Bielefeld ein: in den Gaststätten "Kyffhäuser" am Kesselbrink und "Eintracht" am Klosterplatz.

426 dieser 590 deportierten Menschen waren am 31. Juli 1942 genau 60 Jahre und älter (davon 62 mindestens 80 Jahre und sechs mindestens 90 Jahre). Nur elf waren jüngere Erwachsene zwischen 20 und 39 Jahren, 18 im Alter von zehn bis 19 Jahren und fünf Kinder unter zehn Jahren. Der Jüngste war Uriel Theodor Frenkel (17 Monate) aus Lemgo, der Älteste Bendix Buchdahl (92 Jahre) aus dem Jüdischen Altersheim Stapenhorststraße 35 in Bielefeld.

Schon vor der Einweisung ins Sammellager gab es die ersten Toten: Im Juli 1942 hatten sich allein in Bielefeld mindestens sieben jüdische Menschen das Leben genommen, um der bevorstehenden Deportation zu entgehen. Bereits im Zug nach Theresienstadt starb der 90-jährige Jakob Julius Rottenstein.

Die Deportierten mussten nach der Ankunft in Theresienstadt am 1. August 1942 in Kleidung auf dem nackten Boden schlafen. Theresienstadt war vollkommen überfüllt, Epidemien brachen aus. Die SS reagierte mit Massendeportationen aus Theresienstadt in das Vernichtungslager Treblinka: 152 der aus Bielefeld Deportierten wurden am 23. September 1942 von Theresienstadt nach Treblinka weiter verschleppt. Alle wurden direkt nach der Ankunft in Treblinka am 25. September 1942 mit Abgasen erbeuteter sowjetischer Panzermotoren erstickt. Zu ihnen zählten die Eheleute Pauline (65 Jahre) und Berthold (66 Jahre) Zuckerberg, Inhaber einer Schuhwarengroßhandlung in der Bahnhofstraße 40.

Louis Ostwald (64 Jahre), war "Produktenhändler" (Metall, Alteisen, Felle, Altpapier) mit Wohnhaus und Firmengrundstück in der Wiesenstraße 13 in Bielefeld. 1939 wurde er in der Waschküche seines eigenen Hauses schwer zusammengeschlagen, um den Verkauf des Hauses zu erpressen.

Louis Ostwald war bereits vor der Deportation an Herzschwäche und Krebs erkrankt und wurde mit einer Tragbahre an den Deportationszug gebracht. Obwohl er 3.600 Reichsmark für einen "Einkaufsvertrag" in das "Heim Theresienstadt" bezahlen musste, der ihm "ärztliche Betreuung und Arzneimittel" garantierte, wurden ihm lebenswichtige Medikamente vorenthalten. Louis Ostwald starb am 11. Oktober 1942 in Theresienstadt. Für insgesamt 212 Frauen und Männer aus der Bielefelder Deportation vom 31. Juli 1942 war Theresienstadt der Todesort.

Die SS deportierte Elise Ostwald (geb. Kahn), die Ehefrau von Louis Ostwald, am 15. April 1944 von Theresienstadt nach Auschwitz-Birkenau ins so genannte "Theresienstädter Familienlager". Bei der Auflösung des "Familienlagers" am 11. Juli 1944 wurde Elise Ostwald mit Zyklon B erstickt.

Die SS deportierte auch Irmgard Baer (geb. Ostwald), die Tochter von Louis Ostwald, am 9. Oktober 1944 von Theresienstadt nach Auschwitz-Birkenau. Irmgard Baer wurde am 13. Oktober 1944 in die Gaskammer des "Krematoriums II" getrieben. An der Hand hielt sie ihre Kinder, den fünfjährigen Ruben und den neunjährigen Heinz.

Insgesamt sind 169 der am 31. Juli 1942 Deportierten in Auschwitz ermordet worden. Nur 49 der 590 deportierten Menschen haben die Shoah überlebt.

Die Namen der Ermordeten werden heute, 31. Juli, um 18 Uhr, am Mahnmal vor dem Bielefelder Hauptbahnhof verlesen. Jede(r) ist herzlich eingeladen, teilzunehmen und ein Seite mit den Namen der Opfer vorzulesen.

Bildunterschrift; Das Foto zeigt Louis und Elise Ostwald (rechts). Links sitzt ihre Tochter Irmgard Baer (geb. Ostwald) mit ihrem Sohn Heinz. Dahinter steht Richard Baer, der Ehemann von Irmgard. Richard Baer wurde im Novemberpogrom am 12. November 1938 von Bielefeld nach Buchenwald deportiert, wo er am 2. Dezember 1938 starb. An der Darstellung der Kommandantur Buchenwald, wonach Richard Baer sich in der Arrestzelle erhängt haben soll, bestehen erhebliche Zweifel.

Bildunterschrift: Als Ruben Baer am 5. März 1939 in Bielefeld geboren wurde, war er bereits Halbwaise. Sein Vater Richard Baer war am 2. Dezember 1938 in Buchenwald ermordet worden. Ruben Baer wurde im Alter von fünf Jahren mit seiner Mutter Irmgard und seinem Bruder Heinz am 13. Oktober 1944 in der Gaskammer des "Krematoriums II" in Auschwitz-Birkenau ermordet.


bielefeld@westfalen-blatt.de

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