Neue Westfälische 07 - Gütersloh ,
24.11.2011 :
Einige Behauptungen stimmen nicht
In der Zeitschrift "Mittelweg 36" hat eine Autorin einen Aufsatz über das Novemberpogrom in Gütersloh verfasst. Dazu und zu dem NW-Artikel darüber ("Wie sich die Gewalt entfesselte", 9. November) äußert sich Helmut Gatzen, Autor mehrerer Schriften.
Wer über den 9. November 1938 in Gütersloh schreibt, der sollte wenigstens die vorhandenen Quellen kennen und angeben, sonst kann daraus nichts werden. Über das Novemberpogrom 1938 haben Jehuda Barlev unter dem Titel "Juden und Jüdische Gemeinde in Gütersloh 1871 bis 1943" und Helmut Gatzen unter dem Titel "Novemberpogrom 1938 in Gütersloh" geschrieben. Beide Bücher sind 1988 (2. Auflage) und 1994 (2. Auflage) im Flöttmann-Verlag erschienen ( ... ) In dem NW-Artikel "Wie sich die Gewalt entfesselte" sind sie als Quelle nicht angegeben.
Der Autor beruft sich auf den Aufsatz von Anne Kunze: "Das habt ihr noch nicht gesehen. Gewaltpraxen des Novemberpogroms 1938" in der Zeitschrift "Mittelweg 36" Nr. 20/10 bis 11/2011 (Hamburger Institut für Sozialforschung).
Und was kommt dabei heraus? - "Gütersloher Bürger schlagen die Fensterscheiben ein" - dabei waren es die Kumpane der SS-Kompanie. "Gütersloher plünderten das Daltropsche Haus" - dabei waren es die SS-Kumpel. "Die jeweils verübte Gewalt des Novemberpogroms lässt sich nicht auf einen konkreten Befehl zurückverfolgen. - Die Eskalation der Gewalt und ihre in jener Nacht ähnlich verlaufenen Muster lässt sich daraus allein nicht erklären."
Wieder werden der Aufmarsch am 9. November, die Befehle aus Berlin und München, die Einsatzzentralen in Gütersloh und die Aktionen und Stationen am 10. November 1938 nicht erwähnt. (Gatzen S. 17 bis 28 und 61). Stattdessen heißt es: "Die Gewaltexzesse sind nicht monokausal zu erklären", "Die Zerstörungsakte entfalteten eine Eigendynamik" und "das Feuer schuf eine Bühne. Die Gewalt wurde zu einen performativen Akt, in dem die Zuschauer keineswegs eine passive Rolle einnahmen." Unterstrichen wird das Drama noch durch die zweifache Behauptung, die Verwüstungen seien "in der Nacht" geschehen. Das stimmt schon einmal gar nicht. Die Synagoge, das Meinberghaus und das Herberghaus wurden in den frühen Morgenstunden, der Komplex Daltrop-Löwenbach wurde am Vormittag des 10. November vernichtet (Gatzen S. 28).
Ich frage mich, wer hier was entstellt und in den neuen Zusammenhang der Gruppendynamik waren keine Menschen, es war "die Gewalt". So allgemein kann Geschichte nicht geschrieben werden. Geschichte hat ein oder mehrere Gesichter, und nur so konkret lässt sich NS-Geschichte unterrichten.
Dr. Helmut Gatzen
Gütersloh
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Neue Westfälische 07 - Gütersloh, 09.11.2011:
Wie sich die Gewalt entfesselte / Reemtsma-Institut veröffentlicht Aufsatz über Gütersloher Novemberpogrom
Von Ludger Osterkamp
Gütersloh. Vor dem Synagogengedenkstein in der Daltropstraße gedenken Gütersloher heute Abend dem Novemberpogrom von 1938. Vertreter des Christenrates werden die Teilnehmer begrüßen und die Feier gestalten, Bürgermeisterin Maria Unger wird die Ansprache halten. Was in jener Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 genau geschah, wie sich die Gewalt aus sich heraus entfaltete, ist nun in einem wissenschaftlichen Aufsatz der Zeitschrift "Mittelweg 36" nachzulesen.
"Mittelweg 36" wird herausgegeben von dem Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS), der renommierten Stiftung von Jan Philipp Reemtsma. In der Ausgabe des Heftes Oktober / November 2011 befasst sich die Historikerin und Journalistin Anne Kunze mit den damaligen Ereignissen in Gütersloh.
Ihr Aufsatz trägt den Titel "Das habt Ihr noch nicht gesehen!" Auf 22 Seiten, angereichert durch historische Fotos und Erzählungen von Zeitzeugen, schildert sie, wie Gütersloher Bürger nachts zur Synagoge zogen und sie in Brand steckten; sie berichtet, wie Gütersloher Bürger die Fensterscheiben am Haus der jüdischen Viehhändlerfamilie Meinberg einschlugen und die Wohnung verwüsteten; sie beschreibt, wie sie die Häuser der Familien Löwenbach und Daltrop anzündeten und die Feuerwehrleute die Häuser niederbrennen ließen, und sie lässt auch nicht aus, wie die Gütersloher das Daltrop’sche Haus, ein Geschäft für Schreibwaren, bis auf die letzten Radiergummis, Papierbögen und Federkiele plünderten.
So detailliert die Schilderungen von Anne Kunze auch sind: Der Anspruch der Autorin ist nicht, die Ereignisse minuziös und so lückenlos wie möglich wiederzugeben. Vielmehr nimmt sie die gut dokumentierten Gütersloher Vorfälle, um ihre These zu belegen, die da lautet: Die jeweils verübte Gewalt des Novemberpogroms lässt sich nicht auf einen konkreten Befehl zurückverfolgen. Anweisungen aus München, als Folge einer Rede von Joseph Goebbels gab es zwar, die Eskalation der Gewalt und ihre in jener Nacht ähnlich verlaufenen Muster lässt sich allein daraus jedoch nicht erklären.
Natürlich, so Anne Kunze, verlief das Pogrom in jedem Ort anders. Es sei zentrales Wesensmerkmal der Gewalt, zumal der kollektiven Gewalt, eine Eigendynamik zu entwickeln; ihre Folgen könnten daher kaum eingegrenzt werden und führten zu unterschiedlichen Ausgestaltungen. Gewalt bringe in der Aktion, aus sich heraus aber auch eine Entwicklung hervor, die am Ende zu ähnlichen, rituellen Verläufen führe.
Dies führe laut Kunze zu zwei Schlüssen. Erstens: Die Gewaltexzesse seien intentional nicht unbedingt so angelegt gewesen und auch nicht monokausal zu erklären, und zweitens: Die Exzesse hätten am Ende aus bloßen Vollstreckern von Befehlen originäre, schuldhaft handelnde Akteure gemacht.
"Quellen ganz einmalig"
Am Beispiel Gütersloh und Umgebung lasse sich diese These ausformulieren, da hier die Gewalt des Novemberpogroms besonders gut belegt sei. "Der Quellenbestand für diese Region ist ganz einmalig", sagt Anne Kunze. Die in Schwaben aufgewachsene, in Berlin lebende Autorin griff für ihren Aufsatz auf vielerlei historisches Material, auf Privatfotos und auf Dokumente im Staatsarchiv Detmold zurück; zentral aber sind die beiden Berichte, die der Landrat von Wiedenbrück am 18. und 22. November 1938 als Antwort auf Fragebögen an die Gestapostelle Bielefeld sandte.
Aus ihnen geht zum Beispiel hervor, wie wichtig ein Treffen der örtlichen NSDAP-Größen im Gütersloher Bahnhofshotel für die spätere Entfesselung der Gewalt war. Die Nazis, SA- und SS-Männer hatten sich am Abend des 9. November 1938 an des gescheiterten Putsches von 1923 erinnert und waren später in ihre gewohnten Lokale gezogen. Nach dem Fernspruch aus München versammelten sie sich wieder, erlebten ein weiteres Mal ihre männerbünderische Geselligkeit und zogen von der Alten Brauerei in Richtung Synagoge. Dort nahmen die Dinge ihren Lauf. "Die affektive und emotional aufgeladene Gruppenatmosphäre wird das Novemberpogrom ganz ohne Frage beeinflusst und mitgeprägt haben", sagt Anne Kunze.
Die Übergriffe, das Einwerfen von Fensterscheiben, von den Nazis verharmlosend "Reichskristallnacht" genannt, verletzten zivilisatorische Grenzen, und mehr noch: Sie öffneten Schleusen im Verhalten der Akteure. War die Privatsphäre der Juden erst verletzt, fielen alle Hemmungen, in ihre Häuser zu stürmen und sie zu verwüsten. "Die Zerstörungsakte entfalteten eine Eigendynamik", schildert Kunze, die körperliche Agilität und die bei den Zerstörungen in Beschlag genommenen Sinne setzten rauschhaftes Potenzial frei. Je mehr sie zerstörten, desto weniger waren die Akteure zu bändigen.
Die Brandstiftungen zogen die Gütersloher Bevölkerung in den Bann. Anne Kunze berichtet, das Feuer habe eine Bühne eröffnet. Die Gewalt wurde zu einem performativen Akt, in dem die Zuschauer keineswegs nur eine passive Rolle einnahmen, sondern über die gemeinsame Betrachtung des Schauspiels eine Gemeinschaft ins Werk setzten und derart zu Mittätern wurden. Das Pilgern von Brandstätte zu Brandstätte nahm gar Formen eines Umzuges an, nicht nur in Gütersloh. Schon der Philosoph Elias Canetti habe diese massen- und machtpsychologische Wirkung öffentlichen Feuers analysiert.
Ob die Schaulust in Gütersloh größer als andernorts, die Zerstörungen umfassender waren - darüber lässt sich die Autorin nicht aus, denn sie sind unerheblich für ihre These. Die Gewalt, so Kunze, führe durch ihre Ausübung zu Bedeutungen und Ordnungen, die zunächst nicht unbedingt so angelegt waren. "In Gütersloh und Umgebung lässt sich wie unter einem Brennglas sehen, was sich damals im gesamten Deutschland abgespielt hat."
"Mittelweg 36"
Die Zeitschrift "Mittelweg 36" erscheint alle zwei Monate. Seit ihrer Gründung 1992 hat sie sich zu einem anerkannten Forum sozialwissenschaftlicher und zeithistorischer Debatten entwickelt. Rund 400 Autoren haben sich bislang an diesen Debatten beteiligt.
Das aktuelle Heft (Nr. 5) trägt den Schwerpunkt Täterpsychologie und Empathie. Anne Kunze stellt in ihrem Aufsatz an Hand des Beispieles Gütersloh das Pogromgeschehen im November 1938 entlang seiner typischen Gewaltpraxen dar: zerstören - plündern - in Brand setzen - misshandeln.
Aufsätze anderer Autoren befassen sich mit der "politischen Ökonomie des Mitgefühls" oder mit "Tätern ohne Eigenschaften - sozialpsychologische Modelle in der Holocaust-Forschung".
Das Heft ist in der Gütersloher Bahnhofsbuchhandlung zu bekommen (ISBN 978-3-86854-710-8).
Bildunterschrift: In Flammen: Das Haus Daltrop an der Kirchstraße 2. Die Feuerwehrleute griffen kaum ein, ließen das Wohn- und Geschäftshaus der jüdischen Kaufmannsfamilie niederbrennen.
Bildunterschrift: Brände als Bühne: Durch ihre Schaulust machten die Gütersloher Bürger das Betrachten des Feuers zu einem Gemeinschaft spendenden Erlebnis, so eine These der Autorin.
guetersloh@neue-westfaelische.de
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