Schaumburger Nachrichten Online ,
09.11.2011 :
9. November / "Wem Unrecht geschieht, der hat die Kosten zu tragen"
09.11.2011 - 20.18 Uhr
Einen weiten historischen Bogen hat Äbtissin Susanne Wöbbeking als Rednerin gespannt: Da die Verschuldung von Staaten heute die Öffentlichkeit beschäftige, stellte sie in den Mittelpunkt ihrer Rede, wie mit dem Vermögen der Deutschen jüdischen Glaubens der Nazi-Staat vor dem Bankrott bewahrt werden sollte.
Obernkirchen (rnk). Man gedenke heute des 9. Novembers 1938: An diesem Tag starb in Paris der Gesandtschaftsrat Ernst von Rath an den Folgen eines Attentats, so Wöbbeking: "Er war tödlich getroffen, sein Tod war vorhersehbar und wurde von den nationalsozialistischen Machthabern in Berlin herbeigesehnt. Denn geschossen hatte ein junger, polnisch-jüdischer Verzweifelungstäter."
Für den 9. und 10. November habe man für ganz Deutschland eine nächtliche "Judenaktion" geplant, flächendeckend. "Hier, in Obernkirchen wie im ganzen Schaumburger Land, hatte eine SS-Standarte aus Hameln den Einsatz "durchzuführen", wie es in der Sprache des Dritten Reiches hieß. Sie tat es konsequent, ohne Emotionen, kalt - und mit einem klaren Ziel vor Augen. Betroffen waren - neben dem jüdischen Gotteshaus hier in der alten Straße - viele, wenn nicht alle jüdischen Mitbürger in Stadt und Kreis. Umgekehrt: Auch die Täter waren zum Teil Obernkirchner Bürger, die der SS, der "Schutzstaffel" des Führers, angehörten. Sie bekamen von den Obernkirchner Firmen, bei denen sie beschäftigt waren, frei."
Das Pogrom ist überliefert: Kurz nach Mitternacht wurden zuerst die Fenster der Synagoge eingeworfen, die Türen eingetreten, Gestühl und Gesangbücher zusammengetragen und in der Mitte des Bet-Raumes angezündet. Dem Mieter im Haus wurde angekündigt, dass man ihn am nächsten Tag abholen werde, und dann ging es weiter zum Kaufhaus Adler. Die Schaufenster wurden eingetreten, ausgestellte Ware auf die Straße geworfen. Zwei SS-Leute sicherten das Ladengeschäft, um Plünderungen zu vermeiden. Ähnlich beim Textilkaufhaus Lion.
Auch da blieben Posten. Erst am frühen Morgen seien Autos vorgefahren um die Warenlager zu räumen - die nationalsozialistische Wohlfahrt habe sie angeblich an bedürftige Volksgenossen verteilen wollen. Anschließend begannen die Verhaftungen. Die Männer der jüdischen Familien Stern, Lion, Adler und Schönfeld wurden morgens um sechs in das Obernkirchner Polizeigefängnis gebracht - insgesamt elf. Zusammen mit anderen waren sie bald Teil der 9.000 "Aktionsjuden", die über Wochen im Konzentrationslager Buchenwald in der Nähe der Goethestadt Weimar gequält, erniedrigt und geschlagen wurden, führte die Äbtissin aus: "Alles verfügbare Bargeld - rund 1.800 Reichsmark - hatte man ihnen zuvor abgenommen.
Es diente dazu, das Pogrom zu finanzieren, soweit es in Obernkirchen stattfand: Nach der Logik der Nazi-Machthaber sollte der, dem das Unrecht geschah, auch die Kosten für die Willkür tragen.
Am gleichen Tag, am 10. November, erklärte Adolf Hitler in München, das Deutschland in Wahrheit den Krieg vorbereite. Doch diese Vorbereitung hatte bis 1938 bereits ungeheuer viel Geld verschlungen, wertete Äbtissin Wöbbeking: "Das Deutsche Reich war so gut wie pleite. Und hier liegt der Schlüssel, mit dem sich die Logik des widerwärtigen Unrechts erklärt, das am 9. November 1938 nur einen vorläufigen Höhepunkt fand: Die Vermögen der Deutschen jüdischen Glaubens sollten den Nazi-Staat vor dem Bankrott bewahren."
Wer aus Buchenwald zurückkam, habe gewusst, dass er seine Firma, sein Vermögen, seine Renten und Versicherungen abzugeben und Deutschland zu verlassen hatte. Eine "Judenbuße" von einer Milliarde Reichsmark war aufzubringen. Die "Reichsfluchtsteuer" und weitere Abgaben bescherten dem Staatshaushalt schließlich eine zusätzliche Einnahme von neun Prozent des Gesamtaufkommens. Die schreckliche Folge: "700.000 jüdische Mitbürger wurden gezwungen, den Staat funktionstüchtig zu halten, der sie wenig später physisch auszurotten gedachte."
Bildunterschrift: Obernkirchen setzt ein Zeichen: Die Gedenkveranstaltung gestern Abend erinnert an das Pogrom.
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