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Deister- und Weserzeitung , 10.11.2001 :

Treue zur Thora: Jüdisches Leben in der Stadt Hameln

Da liegt sie, die zerbrochene Bronzesäule in der Bürenstraße – sie sieht aus wie eine große durchgebrochene Thora-Rolle und ist mahnendes Denkmal für das gewaltsame Ende des jahrhundertelangen Zusammenlebens von Christen und Juden in unserer Stadt. Gestern – am 9. November – jährte sich zum 63. Mal die Zerstörung der Hamelner Synagoge im Jahr 1938.

Von Fritz Koenig

Hameln. Statt durch eine hohe, Respekt heischende Flügeltür in ein Gotteshaus zu schreiten, geht es hier zum jüdischen Gottesdienst die lange Treppe eines Bürohauses hinauf. Es gibt sie wieder, jüdische Gemeinden in Hameln. Nach Zerstörung der alten Synagoge in der Bürenstraße während der "Reichskristallnacht" 1938 und dem Untergang der Hamelner jüdischen Gemeinde im Holocaust existiert für 160 Mitglieder der 1997 begründeten Hamelner "Union progressiver Juden" im zweiten Stock des Hauses Stubenstraße 30 eine junge Synagogengemeinde. Vorsitzende ist Rachel Dohme. Eine weitere Synagoge befindet sich in der Lohstraße 2, wo 260 Mitglieder der jüdischen Kultusgemeinde im Landkreis Hameln-Pyrmont "Menora" seit einigen Jahren eine Heimstatt ihres Glaubens fanden. Vorsitzender: Dr. Jakov Bondar. An der offenen Etagentür im zweiten Stock des Hauses in der Stubenstraße begrüßt Rebekka (15) die Besucher mit einem fröhlichen "Hallo!". Im Synagogenraum, der wie ein großes Zimmer wirkt, trete ich mit einem freundlichen Herrn ins Gespräch. Er kam mit seiner Familie vor neun Jahren aus der Ukraine nach Deutschland. Von seiner Großtochter, damals sechs Jahre, sagt er stolz: "Sie spricht jetzt Russisch nur noch mit deutschem Akzent." An den Wänden des Raumes befinden sich Regale mit hebräischen Büchern in russischer Übersetzung. Fast alle der heute in Hameln lebenden jüdischen Menschen kamen aus der ehemaligen Sowjetunion nach der Wende 1989/90. Zuletzt fällt der Blick auf eine abgeteilte Ecke mit Stuhlreihen. Auf einem Schrein davor sind heilige Gegenstände ausgebreitet, goldbestickte Bänder, Kelche. Hier ist sie auch: Die große, nur mit zwei Händen zu haltende heilige Thora-Rolle, das jüdische Gesetzbuch mit den fünf Büchern Moses. Auf ein Zeichen nehmen die in kleine Gesprächsrunden vertieften Synagogenbesucher Platz. Die Rabbinerin Joel David winkt ein junges Ehepaar mit seinem Baby heran, führt die Hand des Kleinen an die Thora und benetzt seine Lippen mit etwas Wein. Frau Rachel Dohme, die aus USA stammende Vorsitzende, klärt mich auf: "Nein, das ist keine Taufe; anders als bei den Christen ist bei uns ein Neugeborenes von Geburt an in die Gemeinschaft mit Gott aufgenommen. Jetzt erhält es feierlich seinen hebräischen Namen." Szenenwechsel: Die Gottesdienstbesucher treten nun an einen Tisch am Eingang. Mancherlei Schreibgerät liegt bereit, Tinte, gespitzte Gänsekielfedern und edles Pergament aus der Haut koscherer Tiere wie Schaf und Ziege. Hier lässt Thora-Schreiber Neil Yerman eine neue Thora entstehen. Nicht ohne vorher die kultischen Voraussetzungen dafür zu schaffen! Drei sternförmig über Arm und Hand verschlungene Lederriemchen symbolisieren die Verbundenheit mit Gott. Vom Moment seiner Entstehung an ist jedes Schriftzeichen der Thora eine ewige, lebendige Kommunikation mit Gott. Jeder der Umstehenden darf in das entstehende Gottesbuch mit "hineinschreiben". Rebekka, das freundliche Mädchen vom Eingang, wünscht für seine Familie Wohlergehen. Als der Thora-Schreiber sich seine Schreibhand durch Rebekka führen lässt und so das Zeichen für "Wohlergehen" entsteht, herrscht ehrfürchtige Stille. Die Handlung des an diesem Vormittag "zu Pergament gebrachten" Thora-Textes: Der Heidenkönig Balak verflucht – vergeblich – das Volk der Juden. Ein Spiegel jüdischer Schicksale über Jahrhunderte? Als ich beim nächsten Mal die Treppe zur Synagoge in der Stubenstraße hinaufgehe, ist eine lebhafte Diskussion zu erwarten. Das gemeinsam mit der christlich-jüdischen Gesellschaft Hameln vorgegebene Gesprächsthema lautet: "In der Fremde daheim?" Es sind Juden aus aller Welt zugegen, die in den Dreißiger Jahren ihre Geburtsstadt Hameln verlassen haben. Frau Ruth Grossmann wurde nach traurigen Kindheitserlebnissen im Hameln der NS-Zeit eine Bürgerin des damals britischen Mandats Palästina und dann des 1948 entstandenen Staates Israel. Gabriel Goldschmidt kam zehnjährig mit einem der letzten Kindertransporte 1939 nach England. Ohne seine Eltern, die in Deutschland zurückblieben und in Auschwitz umkamen, fühlte er sich lange tief heimatlos. Als Mitglied der heutigen jüdischen Gemeinde Hamelns ergänzte Frau Polina Pelts aus Odessa, dass sie sich noch immer an ihre südrussische Heimat erinnert, wo sie bei aller antisemitischen Anfeindung in der Familie Geborgenheit fand. Während der scharf antisemitischen Breschnew-Zeit reifte aber ihr Entschluss, mit ihrer Familie ein neues Zuhause zu suchen. Nach Zwischenaufenthalt im Schloss Hasperde wurde ihr Hameln zur Heimat. Anders als bei den Christen endet für die gläubigen Juden die Woche am Freitagabend. Mit Sonnenuntergang beginnt der Schabbat. Alle Arbeit ruht. Zum Schabbat-Gottesdienst am Freitagabend sind jetzt die Sitzreihen der Synagoge in der Lohstraße prall gefüllt. Alle Männer tragen die flache runde Kipa als Kopfbedeckung. Der Gottesdienst läuft in liturgischer Strenge ab. Psalmen und andere heilige Texte werden von Gemeindelehrer Wladimir Baum in Hebräisch vorgesungen und von Dr. Bondar anschließend russisch deklamiert. Musik und Gesang der versammelten Gemeinde unterstützen die andächtige Stimmung. "Schalom alenu", Gottes Friede komme zu uns – dieses Lied bereitet so recht den Schabbat vor, der ein Innehalten, eine Abkehr vom Treiben der Welt sein soll. Das "Kadusch", die Heiligung eines Weintrunks für die Gottesdienstgäste, und das Brechen des "Halla"-Brots, das koscher, ungesäuert, zubereitet sein muss, setzen den Schlusspunkt. "Schabbat schalom", Friede sei mit Dir, wünschen einander die Menschen mit Händedruck. Eine gelöste, ja freudige Stimmung breitet sich aus. Der Schabbat hat begonnen. Erneuter Szenenwechsel: "In Deutschland ist es viel kälter als in Russland", stellt Dr. Bondar, der Vorsitzende der jüdischen Kultusgemeinde in der Lohstraße bei einem Gespräch fest. Als ich ungläubig blicke, klärt er mich auf: "Das nasskalte Wetter in Hameln wirkt viel kälter als die 38 bis 40 Grad trockene Kälte, die im Winter in Moskau herrschen." Wir sitzen in den Räumen der Menora-Synagoge. Sichtlich stolz sind die aus der ehemaligen Sowjetunion nach der Wende 1989/90 ausgewanderten Teilnehmer des Gesprächs auf ihre Hamelner Synagogenräume mit der heiligen Thora.

Bald sind wir beim Hauptthema, das diese Menschen bewegt. Sie möchten sich stärker in die deutsche Gesellschaft integrieren, in der ihnen Hamelner Bürger, Bekannte, Freunde weitgehend aufgeschlossen begegnet sind. Auch die Hilfen der Stadt werden gelobt. "Die Kinder haben sich am schnellsten integriert", freut sich Dr. Bondar, selbst Großvater eines Achtjährigen, der einem Hamelner Tanzsportverein beitrat. Eine Herzensangelegenheit ist den aus Russland stammenden Menschen die Betonung der Kontinuität jüdischen Lebens in Hameln. Der früheren jüdischen Gemeinde möchten sie ein Museumszimmer in der Synagoge widmen. Ihr Augenmerk richtet sich dabei besonders auf die Pflege des seit 1743 in Hameln bestehenden jüdischen Friedhofs an der Scharnhorststraße, wo inzwischen auch wieder Beerdigungen stattfinden. "Ein Wasserleitungsanschluss dort wäre schön", wird angemerkt mit Blick auf die rituell vorgeschriebene Waschung der Hände nach jedem Friedhofsbesuch. Als ich mich auf den Heimweg mache, kommt mir in den Sinn, was Frau Mikchew erzählte: Ihre Mutter hatte elenden deutschen Kriegsgefangenen, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs beim Wiederaufbau Leningrads hart zupackten mussten, etwas Brot zugesteckt. Einem Deutschen, der fragte, warum sie das tue, obwohl viele ihrer Landsleute bei der deutschen Belagerung umgekommen seien, antwortete die jüdische Frau: "Zu helfen ist Menschenpflicht."

10./11.11.2001
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