Neue Westfälische ,
03.12.2009 :
Im Namen des Volkes / Der Fall Demjanjuk: Wie in Bielefeld die deutsche Rechtsprechung über NS-Täter für Jahrzehnte geprägt wurde
Von Nicole Hille-Priebe
Bielefeld. Ewald Sudau wurde am 4. November 1959 vom Bielefelder Schwurgericht freigesprochen. Der zuletzt in Minden wohnhafte ehemalige Gestaposekretär (57) war wegen Beihilfe zum Mord an 130 bis 150 jüdischen Gästen eines Erholungsheims in Augustowo (Polen) im Sommer 1941 angeklagt. Weil Sudau an einer Dienstbesprechung teilgenommen hatte, in der das Schicksal der Festgenommenen besiegelt worden war, forderte der damalige Staatsanwalt Kny wegen Tatbeteiligung an der Erschießung von 30 bis 50 Menschen die gesetzliche Mindeststrafe: drei Jahre Zuchthaus.
Der Vorwurf, Sudau sei auch an einer zweiten Exekution mit etwa hundert Opfern beteiligt gewesen, hatte sich schon im Verlauf der Beweisaufnahme als haltlos erwiesen und musste fallengelassen werden. Sudaus damaliger Kommandoführer Ilges hingegen war zuvor vom Kölner Schwurgericht zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Ewald Sudau hatte mehr Glück: Nach nur zwei Verhandlungstagen war er wieder auf freiem Fuß. Die Kosten des Verfahrens trug die Staatskasse.
Zur Begründung des Freispruchs führte Landgerichtsdirektor Bender in Bielefeld aus, der Angeklagte habe sich unwiderlegbar darauf eingelassen, dass er bei der Beschlagnahmung des Heims nur die Angehörigen des Hauspersonals überprüft habe, die sämtlich freigelassen worden waren. Dann könne man ihn aber nicht für die Erschießung der übrigen Personen verantwortlich machen, "das würde sonst auf eine Kollektivschuld hinauslaufen, die es im deutschen Strafrecht nicht gibt", hieß es im Gerichtsbericht der Westfälischen Zeitung, einer Vorgängerin dieser Zeitung.
Für das Urteil hatten sich die Bielefelder Nachkriegsjuristen offenbar von der im Jahr zuvor gegründeten Zentralstelle zur Aufklärung von nationalsozialistischen Verbrechen in Ludwigsburg beraten lassen. "Die Zentralstelle hat auf Anfrage des Schwurgerichts zum Ausdruck gebracht, dass seitens der Strafverfolgungsbehörden nicht beabsichtigt werde, ein Ermittlungsverfahren gegen alle an der Begehung derartiger Verbrechen beteiligten Personen einzuleiten; 'kleine Befehlsempfänger' wie Angehörige der Erschießungs- und Absperrkommandos sollten im Allgemeinen nicht unter Anklage gestellt werden" (LG Bielefeld, 04.11.1959, abgedruckt in "Justiz und NS-Verbrechen", Bd. XVI). In späteren Urteilen der Landgerichte Hamburg und Stuttgart hieß es sogar: "Gegen die letzten Glieder der Kette innerhalb der Mordmaschinerie, zum Beispiel die Todesschützen, die - auf Grund welcher Umstände auch immer - ihre Taten selbst, vorsätzlich und eigenhändig begehen, wird im Normalfalle gar nicht Anklage erhoben" (LG Hamburg, 17.05.1976). "Eine anderslautende Entscheidung würde jetzt noch die strafrechtliche Verfolgung aller deutschen Polizeikräfte und zum Teil auch Wehrmachtsangehörigen, die im Ostraum bei Aussiedlungsaktionen zu bloßen Absperrdiensten kommandiert worden sind, nahelegen. Diese Konsequenz ist schon in früherer Zeit unter richtiger Bewertung der ausweglosen Verstrickung militärisch gebundener 'kleiner Leute' in das damalige Unrechtssystem nicht gezogen worden" (LG Stuttgart, 11.07.1973).
Christiaan F. Rüter, einer der profiliertesten Kenner der deutschen NS-Rechtsprechung, glaubt deshalb nicht an eine Verurteilung von Ivan Demjanjuk. Die westdeutsche Justiz habe bis heute zu einem gewissen Grad Täterschutz betrieben. "Das ist zwar eine Richtlinie, aber diese wird peinlich genau eingehalten, obwohl die Staatsanwaltschaft und die Richter überhaupt nicht an diese Richtlinie gebunden sind. So wird vorgegangen. Diese kleinen Leute finden sich nicht bei den verurteilten NS-Tätern der letzten 40 Jahre", sagt der Niederländer in der ARD-Dokumentation "Der Fall Ivan Demjanjuk".
Vier NS-Organisationen waren 1946 für verbrecherisch erklärt worden: das Korps der politischen Leiter der NSDAP, die Gestapo, der Sicherheitsdienst (SD) und die Schutzstaffeln der NSDAP (SS). Die Entscheidung über das Verschulden der einzelnen Mitglieder überließ man späteren Gerichtsverfahren. In der britischen Zone wurden insgesamt sechs Spruchgerichte gebildet, die man jedoch bereits ab 1949 wieder schrittweise abbaute. In OWL gab es zwei: das Spruchgericht Hiddesen bei Detmold für das Internierungslager Staumühle bei Paderborn und das Spruchgericht Bielefeld für das Internierungslager Eselheide bei Stukenbrock.
In der gesamten britischen Zone waren bis Mitte 1946 mehr als 71.000 nationalsozialistische Funktionsträger in den "automatischen Arrest" genommen worden. Im Internierungslager Neumünster-Gadeland (Schleswig-Holstein) saßen im Herbst 1945 knapp 11.000 Personen ein. Als das Lager im Oktober 1946 aufgelöst wurde, kamen die zu diesem Zeitpunkt noch rund 6.000 Internierten überwiegend in das Lager Eselheide. Auf sie wartete das britische Spruchgericht in Bielefeld. 1956 wurden die Aufgaben schließlich den ordentlichen Gerichten und den Staatsanwaltschaften übertragen.
Bildunterschrift: Eindeutig: Ein Urteil des Bielefelder Landgerichts wurde 1959 zum Muster für die NS-Rechtsprechung der Nachkriegsjahre bis zur Gegenwart.
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