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Neue Westfälische , 16.06.2004 :

Nur nicht untergehen / Schulfreundin von Anne Frank als Zeitzeugin zu Gast

Von Jeanette Wedeking

Gütersloh. "Warum darf ich leben und meine Freundin Hannah nicht?" schreibt 1942 das jüdische Mädchen Anne Frank in ihr Tagebuch, während sie mit ihrer Familie auf einem Dachboden in Amsterdam vor den Nazis Schutz sucht. Was Anne Frank zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Ihre jüdische Freundin und Nachbarin lebt. "Und weil es mich heute noch gibt und Anne nicht, fühle ich mich verpflichtet, unsere Geschichte zu erzählen", sagt Hannah Elisabeth Pick-Goslar. Und es wirkt wie ein Geschenk an die verlorene Freundin, die am vergangenen Donnerstag 75 Jahre alt geworden wäre, hätte sie die Judenverfolgung überlebt.

"Sechs Millionen ermordete Juden, das ist eine Zahl, die einem nichts sagt", weiß Hannah Pick-Goslar und versucht sich deshalb vor ihrem jungen Publikum in der Anne-Frank Gesamtschule in Gütersloh nicht in Geschichte. Einen einzigen Fall greift sich die 75-Jährige heraus, ihren eigenen.

Sie ist vier Jahre alt, als sie 1933 mit ihren Eltern aus Deutschland in die Niederlande flieht. Im Nachbarhaus am Merwedeplain in Amsterdam-Süd wohnt Anne, ebenfalls aus Deutschland. Vorlaut und frech sei sie gewesen, die Anne, und immer auf der Suche nach Aufmerksamkeit. "Der liebe Gott weiß alles, aber Anne weiß alles besser", zitiert Hannah Pick-Goslar ihre Mutter mit einem Schmunzeln.

Hannah und Anne sind unzertrennlich, bis zu dem Zeitpunkt des Untertauchens der Familie Frank im Juli 1942. "Mir wurde gesagt, die Familie ist in die Schweiz gereist", niemand habe von dem vorbereiteten Versteck im Büro des Vaters gewusst. Und so verliert sich der Weg der beiden Freundinnen.

Bis zum Februar 1945, als sie sich ein letztes Mal im Konzentrationslager Bergen-Belsen begegnen. "Die Deutschen sind zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Rückmarsch und bemüht, die Spuren der Lager im Osten zu vertuschen. Sie haben Bergen-Belsen mit Menschen überschüttet. Zum Schluss war es schlimmer als Auschwitz", zu den anfänglich 1.200 Inhaftierten kamen weitere 60.000 hinzu. Damit Häftlinge aus Auschwitz nicht über das Erlebte berichten, wurden blickdichte Zäune zwischen den Baracken errichtet.

Gespräche finden dennoch statt und eine Frau verrät: "Deine Freundin Anne ist hier." Einige Zeit später habe eine zaghafte Stimme ihren Namen gerufen "Und es war Anne", sagt Hannah Pick-Goslar. Von dem lebensmutigen Kind ist nichts geblieben. Annes Schwester Margot ist sterbenskrank und ihren Vater wähnt sie bereits tot - ein Trugschluss, wie sich später herausstellt, da er als einziger der Familie überlebt. "Ich denke immer, hätte sie das gewusst, hätte sie vielleicht durchgehalten." Doch das Massensterben durch Fleck-Typhus hatte bereits eingesetzt; die Krankheit, der auch Anne vermutlich erlag.

"Ich habe Anne durch den Zaun nur gehört, ich habe sie nie wieder gesehen", sagt Pick-Goslar, die seit fast 60 Jahren in Israel lebt und zurzeit mit ihrer Tochter durch Deutschland reist. Wie sie sich dabei fühlt, wenn sie Deutschen heute begegnet, fragen die Schüler, denen sie nach ihrer Geschichte Rede und Antwort steht. "Ich freue mich über das Interesse der jungen Menschen. Die Großeltern hoffe ich nicht zu treffen", denn die, so Pick-Goslar, hätten ja nie etwas gewusst. Und sie schiebt nach: "Über Gefühle rede ich nicht so gerne."

Sie klagt nicht an, sie ermahnt nicht, sie weint nicht. Nur untergehen will sie nicht, deshalb klettert sie auch schon mal auf den Tisch, damit alle sie sehen und hören. Ihre dichte Erzählstruktur fängt jeden unkonzentrierten Geist ein, bis man selbst glaubt, mit Anne Frank befreundet zu sein. Manchmal, sagt Pick-Goslar, würde eine Ermahnung ihrem Vortrag vorausgehen. Lehrer würden ihren Schülern empfehlen, gut zuzuhören, weil es ja nur noch wenige Zeitzeugen gebe. "Dann bedanke ich mich immer recht herzlich", so Pick-Goslar mit einem Lachen. "Aber sie haben ja Recht."


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