Lippische Landes-Zeitung ,
09.06.2004 :
Mythos Sauberkeit / Alltägliches aus lippischen Feldpostbriefen
Detmold (kön). Rund 44 Milliarden Feldpostbriefe wurden im Zweiten Weltkrieg verschickt. Sie waren Lebenselixier der Soldaten an der Front und gaben der Familie daheim einen Eindruck dessen, was Krieg für die Soldaten alltäglich bedeutete. Michaela Kipp, Historikerin an der Universität Bielefeld, gab Einblicke in die wertvollen Zeugnisse der deutschen Vergangenheit.
"Feldpostbriefe erzählen vom Wetter sowie von Land und Leuten - heute würden wir sagen, dass seien Smalltalk-Themen." begann Michaela Kipp ihre Ausführungen. Aber dennoch stecke weitaus mehr hinter diesen scheinbar harmlosen Themen. Sie erläuterte die wichtige psychologische Aufgabe der Feldpost. Den Menschen zu Hause solle versichert werden, dass an der Front "alles in Ordnung sei" und der Front solle aus der Heimat gleiches versichert werden. Die Historikerin gab weiterhin Einblicke in die Zensur, der die Feldpost stichprobenartig unterlag.
So durfte nicht über Kriegsgeschehnisse geschrieben und keine Regimekritik geübt werden. Eine weitere Zensur bezeichnete sie als "innere" Zensur der Soldaten, denn diese waren zum Teil nicht in der Lage, die Grausamkeiten des Krieges niederzuschreiben. Einige Soldaten taten es dennoch und einzelne Briefe blieben von der Zensur verschont. Zitate dieser Briefe bilden offene Tabubrüche über Kriegsverbrechen und sind zweifelsohne wichtige Zeitzeugen, so die Expertin.
Um die Zensur zu umgehen und nicht von Gräueltaten schreiben zu müssen, avancierte die "Sauberkeit" in den untersuchten Briefen des Russlandfeldzuges zum Hauptthema der Soldaten. Sätze wie "Ich bin ein richtiger Läusejunge geworden" oder "In Russland findet sich alles beisammen, was einem deutschen Soldaten das Leben schwer macht" oder "Wie haust ihr nur?" zeigen, dass Sauberkeit eine zentrale Rolle für die Soldaten spielte. "Dreck, Lumpen und Läuse" waren unter anderem Bestandteile der rassistischen NS-Ideologie und wurden durch die Sprache der Leute auf der Straße zum Alltags-Rassismus, führte die Historikerin aus. " Soziale Gruppen wurden durch den Sauberkeitsaspekt getrennt. Das Thema Dreck wurde zur Abgrenzung von sich selbst gegenüber anderen benutzt", erläuterte Kipp weiter. "Die Bevölkerung wurde durch diese Strategien dehumanisiert und die Menschen zu gesichtslosen Opfern." Die Historikerin zeigte Zusammenhänge zwischen den Themen "Sauberkeit" und "Krankheit" auf, die sich in den Nazi-Ideologien als aggressive Reinlichkeit wieder findet. Sie belegte diese These mit der Begründung, dass zum Beispiel einige verbrecherische Befehlstaten des Krieges als "Säuberungsaktionen" bezeichnet wurden.
Interessanter chronologischer Aspekt ist für die Historikerin die "Umkehr der Bedeutung des Begriffes Sauberkeit" gegen Ende des Krieges. In Briefen aus den Jahren 1944 und 1945 fanden sich häufiger Zitate wie "Hauptsache wir sind am Leben" oder "Man muss erst richtig dreckig sein, um zu Gott zu kommen. Im Konfirmationsanzug geht das nicht." Kipp führte dies auf eine gewisse Gewöhnung an Land und Leute sowie auf die Gewöhnung an Kriegsereignisse generell zurück. Auch sei keine Siegeseuphorie mehr vorhanden gewesen und der Verfall der deutschen Soldaten sei zusehends größer geworden. "Der Überlegenheitsdünkel war einfach nicht mehr aufrecht zu erhalten", schloss die Historikerin.
Ihr Vortrag "Alltägliches aus einer nicht alltäglichen Situation - lippische Feldpostbriefe und der Krieg im Osten 1941 bis 1944" ergänzte die Ausstellung der Feldpostbriefe zur Installation von Christa Niestrath im Staatsarchiv Detmold.
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