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Lippische Landes-Zeitung , 09.06.2004 :

Das Vakuum nach der Shoa / Gestern Abend: Paul Spiegel, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, liest in Detmold

Detmold (Sam). "Wie kann man als Jude in Deutschland leben?" Dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Paul Spiegel, wird diese Frage oft gestellt - und jedes Mal merkt er auf: Fragt da jemand, der sich in seiner Perfidie ein "judenreines" Deutschland wünscht? Oder hat da jemand ein ehrliches Interesse daran, wie ich mich als Überlebender des Holocaust in Deutschland fühle? Die Antwort auf die letzte Frage gab er gestern Abend bei einer Lesung aus seinem Buch "Was ist koscher?" in der Kundenhalle der Sparkasse Detmold.

Juden, die in Deutschland lebten, galten in der übrigen jüdischen Welt lange als verpönt, als Abschaum gar, erzählte der gebürtige Warendorfer Spiegel. Sie würden dem millionenfachen Mord im Dritten Reich nicht Rechnung tragen, so der Vorwurf. "In Deutschland zu leben, wird aber heute von niemanden mehr als echtes Problem angesehen - außer von den ewig Gestrigen, auch von den jungen ewig Gestrigen", so Spiegel.

Die Juden in Deutschland stünden nicht jeden Tag mit dem Gedanken an den Holocaust auf. Sie seien wie alle anderen in ihren mal mehr, mal weniger bedeutsamen Sorgen gefangen. Und: "Wir freuen uns, in einem demokratischen Staat zu leben."

Aber, mahnte Spiegel, es werde Generationen dauern, bis das Judentum in Deutschland wieder zu einer "blühenden Gemeinschaft" gewachsen sei - zu groß sei das Vakuum, das die "Shoa" hinterlassen habe. Das hebräische Wort "Shoa" bedeutet im Ursprung "große Katastrophe", in Israel ist dies die offizielle Bezeichnung für den Genozid an den europäischen Juden.

Sich zu kennen, genug voneinander zu wissen, entzieht Vorurteilen und Vorbehalten den Nährboden. In diesem Sinne hat Spiegel sein Buch "Was ist koscher?" verfasst. Und so beantwortet er naheliegendste, aber viel zu selten gestellte Fragen wie "Warum feiern wir Juden kein Weihnachten?"

Jesus sei für die Juden nichts anderes als ein Jude, "ein revolutionärer vielleicht". Aber nicht der Messias, der Erlöser, als der er in der christlichen Welt verehrt werde. Insofern könne das Judentum auch nicht Weihnachten als Geburt des Messias feiern.

Laut Spiegel ist im jüdischen Sinne die Erlösung erst dann gekommen, "wenn Zicklein und Wolf friedlich nebeneinander liegen" und Schwerter zu Pflugscharen werden. Und wenn er sich die Welt mit ihren blutigen Konflikten so ansehe, sagte der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, dann sei die Erlösung aus jüdischer Sicht tatsächlich noch nicht gekommen.

Getreu dem Titel seines Buches ging er natürlich auch darauf ein, was denn koscher ist. Bei dieser Frage geht es nicht um hygienische, sondern um spirituelle Reinheit. Der Verzicht auf nichtkoschere Lebensmittel wie Schweinefleisch oder Schalentiere solle dies ermöglichen. Koschere Taten vollbringe der, der sie im Sinne Gottes vollzieht. Üble Nachrede zum Beispiel ist etwas, das nach der jüdischen Moral besonders verachtenswert gilt.


Detmold@lz-online.de

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