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Lippische Landes-Zeitung , 04.06.2004 :

Rückzug mit Professor Falkenthal / 6. Juni 1944: Salzufler Jungs beim Reichsarbeitsdienst erleben die Invasion in der Normandie

Von Ulrich Pfaff

Bad Salzuflen-Knetterheide. Gerhard Sander war 16 Jahre alt, als er am 27. Juli 1943 mit seinem Persil-Karton in Bad Salzuflen in den Zug stieg. "Nur drei Monate zum RAD", dachte er über seine Einberufung zum Reichsarbeitsdienst. Aber erst mit 21 Jahren sah er seine Familie wieder: Der Arbeitsdienst hatte ihn in die Normandie geführt, wo am 6. Juni 1944 die Alliierten mit der so genannten Invasion begannen - und von dort aus ging Sander geradewegs in die amerikanische Kriegsgefangenschaft. Noch 60 Jahre nach diesen prägenden Erlebnissen trifft sich Sander oft mit seinen früheren Kameraden, die sein Schicksal teilten.

Helmut Krüger, Willi Ehlenbröker und Werner Krüger - alle Jahrgang 1926 - gehörten wie Gerhard Sander zur gleichen RAD-Einheit, die seit Dezember 1943 südlich der Hafenstadt Cherbourg auf der Halbinsel Cotentin bei einer Einheit der schweren Flak stationiert war. Nach ihrer Grundausbildung beim Arbeitsdienst waren die 16-Jährigen zunächst in die Nähe von Paris verlegt worden, um dort Bombentrichter zuzuschütten - dann ging es nach Hamburg zur Flakausbildung. Seinen 17. Geburtstag feierte Sander in einer Schule in Cherbourg, wo seine Einheit untergebracht war. Und Ende Januar 1944 war die RAD-Flakbatterie bei Briques "feuerbereit". Sander war Ladekanonier am Geschütz Dora, Ehlenbröker so genannter K 6 am Geschütz Caesar - er musste die Zündeinstellung der 10,5-Zentimeter-Flakgranaten vornehmen. Werner Krüger saß in der Schreibstube, und Helmut Krüger am Entfernungsmesser. Vom Krieg, der sich auf der anderen Seite des Ärmelkanals längst auf die Landung Hunderttausender von Soldaten und Fahrzeugen an der Normandieküste konzentrierte, bekamen die Arbeitsdienstmänner wenig zu sehen.

"Nur Schatten und Knallerei"
Gerhard Sander

"Man hat ständig nur geschlafen", erzählt Gerhard Sander, denn für jede Stunde Alarm nach Mitternacht durften die Jungen morgens eine halbe Stunde länger schlafen. Am 20. April aber kamen 150 amerikanische B-17-Bomber und warfen ihre Last ab. "Unser Schutz-Objekt, die Baustelle, war kaputt", erzählt Sander. Mehrere Bomber seien von den Flakgeschützen abgeschossen worden - auf einer Wiese habe er mehrere Leichen amerikanische Flieger bewacht, bevor sie zur Bestattung abgeholt wurden. Es war sein erster direkter Kontakt mit dem wahren Gesicht des Krieges.

Am 6. Juni sollten die jungen Männer schließlich erleben, wie die Alliierten mit ihrer geballten Masse an Menschen und Material die von Hitler vollmundig ausgerufene "Festung Europa" angriffen. Schon in der Nacht war es zu einem Feuergefecht mit amerikanischen Fallschirmjägern gekommen. Sander: "Da waren nur Schatten und Knallerei. Das dauerte nur Minuten, aber ein Kamerad aus Lemgo war tot. Ich behaupte, dass er der erste deutsche Gefallene war." Am Morgen sei befohlen worden, die Hakenkreuzarmbinde abzulegen, "dann wurden Eiserne Rationen ausgeteilt", erzählt Willi Ehlenbröker: "Eine Büchse Ölsardinen, Zucker, diese Hundekekse, eine Feldflasche voll Rotwein."

Jeder Schuss der Batterie auf alliierte Jagd- und Bombenflugzeuge wurde von Salven der Schiffsartillerie beantwortet - etliche der jungen Männer starben. "Heinrich Tiemann aus Bexten wurde schwer verwundet und ins Lazarett gebracht. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist", erinnert sich Sander. Er selbst sprang dem Tod nur knapp von der Schippe: Eine britische "Lightning"- ein Doppelrumpf-Jäger - beschoss das Gebüsch, in dem er sich versteckt hatte und klinkte zwei Bomben aus - "20 Meter vor mir schlugen sie in den weichen Wiesenboden ein. Sie explodierten nicht." Noch fast zwei Wochen bliebt die Flakbatterie - wenn auch bereits die meisten Geschütze durch Treffer ausgefallen waren - in ihrer Stellung. Am 12. Juni schrieb Sander den letzten Brief nach Hause: "Dass gestern Sonntag war, kann ich mir gar nicht vorstellen. Am 11. hat es noch mal Gulasch und Pudding mit Weinsoße gegeben." Dann waren die Amerikaner an die Westküste der Halbinsel vorgestoßen: Alle deutschen Truppen nördlich davon waren abgeschnitten, der Rückzug in die Festung Cherbourg begann. Die Einheit sprengte ihre Geschütze, die Baracken wurden angezündet. Den Weg nach Norden erlebten Gerhard Sander, Willi Ehlenbröker und Werner Krüger jeder als eigene Odyssee - Helmut Krüger war einen Tag vor der Invasion nach Antwerpen auf einen Lehrgang geschickt worden. Ehlenbröker landete zunächst bei einem Fallschirmjäger-Lehrregiment, schloss sich dann aber einem Wachtmeister Falkenthal an, der im Zivilleben ein bekannter Musikprofessor und Schüler des Komponisten Furtwängler gewesen sei - sie versuchten sich nach Cherbourg durchzuschlagen. In einem Café südlich der Hafenstadt war Schluss. "Draußen standen die Amis und riefen Come on, Hands up. Nur den Löffel durfte ich behalten. Mensch, was waren da Leute auf der Wiese." Werner Krüger wurde von einer Einheit aufgegriffen, in der überwiegend russische Hilfswillige waren. Er bekam einen Pferdewagen und musste Verpflegung an die Front fahren: "Morgens Blutwurst, mittags Blutwurst, abends Blutwurst. Ich hatte noch niemals vorher mit einem Pferd zu tun." Er machte den Rückzug auf Cherbourg mit, fand sich schließlich bei den letzten Einheiten wieder, die die Stadt noch hielten - in einem der Forts vor dem Hafen, die mit der Kapitulation am 20. Juni übergeben wurden. Auch Gerhard Sander geriet in amerikanische Gefangenschaft. Er war zuletzt - mit einer Fleischwunde am Arm - in den Stollen, die die Wehrmacht in den Fels unter dem Fort du Roule getrieben hatte und in denen sich das Hauptquartier des Generals von Schlieben befand.

Als Sander auf Utah Beach mit Tausenden anderer deutscher Gefangener auf ein Schiff transportiert wurde, bekam er zum ersten Mal die alliierte Flotte zu Gesicht.

"Schiffe, Schiffe, nur Schiffe"
Gerhard Sander

"Was für ein Anblick: Schiffe, Schiffe, nur Schiffe. Und da sollte bei uns einer mit Holzschuhen, einem polnischen Karabiner und 48 Schuss Munition Deutschland verteidigen." Gedanken, die auch Willi Ehlenbröker durch den Kopf gingen: "Als ich das Material gesehen habe, was die hatten, da wusste ich: Der Krieg ist verloren."

Helmut Krüger war in diese Ereignisse nicht mit hineingezogen worden - aber er erlebte das Chaos der Kämpfe in Frankreich auf andere Weise mit. Von den Amerikanern vor sich her getrieben, zog sich die Einheit, der er zugeteilt worden war, nach St. Nazaire an die Loire-Mündung zurück. Die Stadt blieb belagert bis zum Kriegsende im Mai 1945. Und Krüger saß drin, hatte nichts zu essen, genau wie die Franzosen der Belagerungstruppen. Währenddessen waren seine drei Kameraden gut versorgt in Gefangenenlagern in den USA. Aber das ist eine andere Geschichte,


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