WebWecker Bielefeld ,
02.06.2004 :
"Ihr seid das Salz der Erde"
Brigitte Decker erhält am Sonntag den Ehrenring der Stadt für ihr Engagement bei der Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Bielefeld. Sie ist maßgeblich an der Aufstellung der zwei Lesepulte mit den Namen deportierter Juden vor dem Hauptbahnhof verantwortlich. Die Friedensgruppe der Altstädter Nicolaigemeinde, der sie angehört, startete in den vergangenen 25 Jahren aber auch noch andere aufsehenerregende Projekte: So zum Beispiel eine Ausstellung über die evangelische Kirche im Nationalsozialismus.
Von Manfred Horn
Ein bisschen verwundert ist sie schon. Brigitte Decker wird am Sonntag den Ehrenring der Stadt Bielefeld erhalten. Gerade sie, die jahrelang für ein nicht gerade populäres Anliegen gestritten hat: Die Erinnerung an die Opfer des Holocaust in Bielefeld. Bereits 2001 erhielt sie zusammen mit ihrem Sohn Martin das Verdienstkreuz der Bundesrepublik, jetzt ehrt sie auch ihre Stadt. Die zierliche Frau arbeitet normalerweise in der Museums-Apotheke, genau gegenüber der Kunsthalle an der Arthur-Ladebeck-Straße. Noch im weißen Kittel, erzählt sie in einem schmucklosen Labor der Apotheke ein Stück ihrer Geschichte.
Alleine hätte sie das alles nicht schaffen können, sagt die aprobierte Apothekerin. Und: Es gibt noch viel zu tun. Angefangen hat alles mit der Friedensbewegung in den 1980er Jahren. Der NATO-Doppelbeschluss, mit dem der Westen auf eine Bedrohung durch sowjetische Mittelstreckenraketen, die mit atomaren Sprengköpfen ausgerüstet werden konnten, reagierte, war der Moment, wo die Jugendpresbyterin der Altstädter Nicolai-Kirche das erste Mal auf die Straße ging. Denn die damalige Bundesregierung mit dem Bundeskanzler Helmut Schmidt stand hinter dem NATO-Beschluss von 1979, der vorsah, bei gescheiterten Verhandlungen mit der Sowjetunion ab 1983 ebenfalls atomar-bestückbare Mittelstreckenraketen aufzustellen.
Hunderttausende protestieren in der alten Bundesrepublik gegen den Beschluss. Unter ihnen Brigitte Decker. Sie macht zusammen mit der 1980 gegründeten Friedensgruppe der Altstädter Nicolaigemeinde Druck auf die Landessynode der evangelischen Kirche. Sie verteilen beispielsweise Traubenzucker an die Synodalen. Allerdings stand auf den Verpackungen "Jodtabletten" drauf: für den Fall des Fall-Outs. Sie fährt nach Bonn zum Feier-Gottesdienst nach der Wahl von Helmut Kohl zum Bundeskanzler. Da verteilt Decker mit ihren Mitstreitern Salzsäcken, frei nach dem kirchlichen Motto: "Ihr seid das Salz der Erde". Kohl bekommt auch sein Salz und die Botschaft: Es kommt auf Dich an. "Wie leistet man als Christ Widerstand", fragt sich die Gruppe damals. Mit fantasievollen Aktionen, lautet die Antwort.
Die Friedensbewegung verliert, Schwerter werden nicht zu Pflugscharen. Nach der Implosion des Friedensgedankens wird das Thema spätestens mit der Vereinigung der beiden Deutschlands von der Agenda der Bevölkerung gewischt, wenn auch zu Unrecht, wie Decker meint. Die Friedensgruppe der Nicolaikirche schrumpft von mehr als 50 Menschen, die sich an Aktionen beteiligt haben, auf einen kleinen Kern.
Schon Anfang der 1980, noch zu Hochzeiten der Friedensbewegung, entdeckt die Gruppe ein neues Thema, das der Kirche damals eher unangenehm war: Wie hat sich die Kirche, die so gerne unpolitisch sein wollte, im Nationalsozialismus verhalten? "Wo haben unsere Väter und Vorväter Widerstand geleistet?", fragt sich Decker damals. Eine aufwendige Recherche beginnt. Archive werden durchforstet, Zeitzeugen interviewt. Im Mai 1985 ist es soweit: Die Ausstellung "Evangelische Kirche im Nationalsozialismus am Beispiel Bielefeld" wird gezeigt, eine Begleit-Broschüre entsteht.
Die Kirche leistete wenig Widerstand
Die erste engagierte Aufarbeitung eines Stückes schwieriger Kirchengeschichte mit dem Fokus auf Bielefeld. Ergebnis: Die Kirche leistete bis auf wenige Ausnahmen keinen Widerstand gegenüber den Nationalsozialisten. Die hatten mit Erfolg versucht, die evangelische Kirche in ihrem Sinn zu politisieren. 1932 gründeten sie die "Deutschen Christen" und traten damit zu den Kirchenwahlen an. Mit großer Resonanz: 1932 erhielt die Liste reichsweit circa ein Drittel der Stimmen, 1933 bereits zweidrittel. "Wir wollen eine evangelische Kirche, die im Volkstum wurzelt, und lehnen den Geist eines christlichen Weltbürgertums ab. Wir wollen die aus diesem Geist entspringenden verderblichen Erscheinungen wie Pazifismus, Internationale, Freimaurertum usw. durch den Glauben an unsere von Gott befohlene völkische Sendung überwinden", hieß es in den Richtlinien der "Deutschen Christen". Und: "In der Judenmission sehen wir eine schwere Gefahr für unser Volkstum. Sie ist das Eingangstor fremden Blutes in unseren Volkskörper". Für die Kirchengeschichte war Bielefeld damals ein spannender Ort, waren hier doch einige Protagonisten der "Bekennenden Kirche" versammelt.
Die gründete sich in Abgrenzung zu den "Deutschen Christen", wollte eine unpolitische Kirche. So ließ sich der Leiter der von Bodelschwinghschen Anstalten in Bielefeld, Friedrich von Bodelschwingh, 1933 zum Reichsbischof wählen, um damit einem Kandidaten der "Deutschen Christen" zuvorzukommen. Kurz zuvor hatten die Nationalsozialisten bestimmt, dass die evangelische Kirche fortan nach dem Führerprinzip zu organisieren sei. Bodelschwingh musste bereits nach 26 Tagen wieder zurücktreten.
Der Versuch aber ist typisch für das Verhalten der "Bekennenden Kirche" bis 1945: Geprägt davon, die Kirche als Glaubensort zu erhalten, gab es zugleich Distanzierungen von den nationalsozialistischen Machthabern, aber auch demütige Unterwerfungsgesten. So schrieb der "Pfarrernotbund" im Oktober 1933 ein Ergebenheitstelegramm an Adolf Hitler, nachdem dieser zuvor aus dem Völkerbund ausgetreten war: "Wir danken für die mannhafte Tat und das klare Wort, die Deutschlands Ehre wahren", hieß es da. Unterzeichnet unter anderem von Martin Niemöller, nach dem Krieg als eine der Widerstandsfiguren von der Kirche hochgehalten. Bis auf wenige Ausnahmen aber taktierte die "Bekennende Kirche", versuchte durch Diplomatie Einfluss zu nehmen: Beispielsweise auf die Euthanasie, den Mord an Behinderten. Entschiedenen Widerstand gab es hier aber genauso wenig wie gegen die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. "Gegenüber den jüdischen Bürgern in Bielefeld hat die evangelische Kirche versagt", stellt Decker heute fest.
"Man ganzes Umfeld unterstützt meine Arbeit", sieht Decker ihr Engagement. Ihr Mann Hans, dem die seit Mitte der 1970er Jahre Apotheke gehört, steht ihr zur Seite, in dem sie sich auch während ihrer Arbeitszeit um ihre Anliegen kümmern kann. "Ich hätte ja auch meine ganze Energie in die Apotheke stecken können".
1987 gelang es der Friedensgruppe, die Umbenennung der Adolf-Stöcker-Straße in Schildesche in Bernhard-Mosberg-Straße durchzusetzen. Adolf Stöcker gründete 1878 die "Christlich-Soziale Arbeiterpartei". Sein Ziel: Die Bekämpfung von Sozialdemokratie, Liberalismus und Judentum: "Wir bieten den Juden den Kampf bis zum völligen Siege und wollen nicht eher ruhen, als bis sie ( ... ) heruntergestürzt sind in den Staub, wohin sie gehören", erklärte er vor Berliner Arbeitern. Der Theologe und Hofprediger des Kaisers, der 1909 verstarb, war einer der geistigen Vorläufer des nationalsozialistischen Terrorregimes.
Bernhard Mosberg hingegen war ein beliebter jüdischer Orthopäde. Er hat viele Menschen kostenlos behandelt, insbesondere Versehrte des 1. Weltkriegs. Die Bielefelder kannten ihn, weil er Gymnastik mit Kindern machte. Er hatte seine Praxis in dem Haus, in dem heute die Museums-Apotheke eingemietet ist und wo Brigitte Decker arbeitet. Mosberg hatte das Haus 1908 bezogen, wurde 1933 als Arzt in Bethel entlassen. Er arbeitete noch bis 1938 weiter in seiner Praxis, mit der SA vor dem Haus, die Patienten aufforderte, nicht zu diesem jüdischen Arzt zu gehen. Nach der Pogromnacht floh er in die Niederlande, wurde dort von der nationalsozialistischen Besatzung verhaftet und nach Theresienstadt deportiert. Später wurde er in Auschwitz ermordet.
Gedenkstein für Zwangsarbeiterinnen
Zwei Jahre später dann wurde auf Initiative der Gruppe ein Gedenkstein zur Erinnerung an das Fremdarbeiterinnenlager auf dem Johannisberg errichtet. Mit dem Stein wird an 500 Zwangsarbeiterinnen aus der Ukraine gedacht. Ein immer noch aktuelles Thema: In diesem Jahr kommen erstmalig überlebende Zwangsarbeiter, die in Bielefelder Betrieben während des 2. Weltkriegs arbeiten mussten, nach Bielefeld (WebWecker berichtete). Bis heute ist die Geschichte der Zwangsarbeiter in Bielefeld nicht vollständig aufgearbeitet.
Das nächste große Ziel der Friedensgruppe war ein Mahnmal für die aus Bielefeld deportierten Juden. Viele Kontakte entstanden bereits aus der Arbeit zur Ausstellung über die evangelische Kirche im Nationalsozialismus. Die Idee entwickelte sich bereits Ende der 80er Jahre, seit der Wahl von Angelika Dopheide zur Oberbürgermeisterin im Jahr 1994 wurden die Bemühungen forciert. Gleich nach ihrer Wahl erhielt sie einen Brief von der Friedensgruppe. Dopheide übernahm spontan die Schirmherrschaft. Auch hier ging Decker wieder gemeinsam mit der Friedensgruppe und Unterstützern wie die "Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit" und die "Deutsch-Israelische Gesellschaft" ein Projekt an, das nur auf verhaltenes Interesse in ihrer Gemeinde stieß. Nach vierzehn Jahren, Anfang der 1990er Jahre, gibt Decker dann ihr Amt als Jugendpresbyterin der Nicolai-Gemeinde auf.
Anregungen gab der damalige Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Bielefeld Arthur Sachs. Er wurde von Bielefeld aus nach Riga deportiert, überlebte und kam als einer der wenigen Juden zurück nach Bielefeld. Die Wahl fiel schließlich auf den Bielefelder Hauptbahnhof. Von dort aus flohen die Emigranten, wurden Juden aus der ganzen Region, bis hin nach Schaumburg-Lippe und dem Warburger Land, ab 1941 in das Ghetto in Riga und dann in die Vernichtungslager geschickt. Mehr als 600 der 1.000 jüdischen Einwohner Bielefelds kam damals in den Lagern um. 1998 wurde die zwei Lesepulte mit 1840 Namen von Juden vor dem Bahnhof aufgestellt. Auf den Tafeln sind heute die Namen aller Bielefelder Juden, die von Bielefeld oder einem anderen Ort aus deportiert wurden und die Namen aller Juden, die aus der Umgebung Bielefelds über diesen Bahnhof in die Lager geschickt wurden, zu lesen.
Vor der Aufstellung der zwei metallenen Pulte stand ein Riesenberg Arbeit: Es gab keine Deportationslisten. Alles musste recherchiert werden. Geld gab es keines für das Mahnmal: "Wir haben alles selber bezahlt. Die Telefonkosten, die Reisen ins Ausland, Architekt und Schriftgestalter haben umsonst gearbeitet", erzählt Decker. 30.000 Mark Spenden, die damals gesammelt wurden, gingen für die Materialkosten drauf.
Und heute? "Wir sind alle älter geworden", stellt Decker nüchtern fest. Die Friedensgruppe ist noch zu viert, mit dabei der Sohn von Brigitte Decker. Die ist inzwischen 67 Jahre alt und immer noch voll Tatendrang. Sie geht in Schulen, um über die Geschichte des Holocaust zu erzählen. Sie arbeitet in der Arbeitsgruppe mit, die alljährlich die Gedenkveranstaltung der Stadt zum 9.November 1938 – der Pogromnacht – vorbereitet. Sie reist ins Ausland, um Überlebende zu treffen. Sie interviewt und sammelt historische Dokumente, ein Buch im Kontext des Mahnmals am Bahnhof soll entstehen. Sie war bereits mehrmals in Israel, in diesem Jahr an der Ostküste der USA: Immer in Kontakt mit Überlebenden.
Und sie war maßgeblich an einer Besuchswoche im September 2001 beteiligt: Überlebende ehemalige Bielefelder Bürger, unter anderem aus Dänemark, Schweiz, Holland und den USA reisten in die Stadt, aus der sie deportiert wurden oder fliehen mussten, weil sie jüdischen Glaubens waren. 20 waren es, plus Begleitung. Oberbürgermeister Eberhard David hatte zunächst die Idee, die Überlebenden nach und nach einzuladen. Decker hingegen sagte, sie könne nicht "selektieren". Schließlich sind alle Überlebenden schon alt und können jederzeit sterben.
Das sah David ein und beschloss: Die Stadt lädt offiziell ein und trägt auch einen Großteil der Kosten. Die Besuchswoche endete genau einen Tag vor den Terroranschlägen in den USA. "Ein Ehepaar war im Flugzeug nach Philadelphia, wo ein Tag später die Maschine entführt und zum Absturz gebracht wurde". Eine der Besucherinnen, Margot Heumann, betätigt sich als ehrenamtliche Stadtführerin in New York. Regelmäßig hatte sie morgens das World-Trade-Center im Programm. Nur eben am Dienstag, 11. September 2001 nicht. Da war sie nämlich vom Bielefeld-Besuch nach Schweden weitergereist. "Nach dem 11.9.2001 wäre die Besuchsreise nicht mehr zustande gekommen", ist sich Decker sicher.
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