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Mindener Tageblatt , 19.05.2004 :

Permanenter Kampf für Menschenrechte / Heiner Bielefeldt: Grundrechte nicht instrumentalisieren / Warnung vor Ansätzen, Folter salonfähig zu machen

Von Jürgen Langenkämper

Minden (mt). "Menschenrechte sind ein Stück Konfliktkultur, Streitkultur, nicht Leitkultur." Mit dieser Einschätzung machte Dr. Heiner Bielefeldt seine eher kämpferische als harmonisierende Interpretation verbindender Grundrechte deutlich.

Der Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte ist auf Grund der aktuellen politischen Lage derzeit ein gefragter Interviewpartner und Gast in Fernsehsendungen (MT vom 11. Mai). Noch am Vorabend im NDR 3 "Talk vor Mitternacht" zog der studierte Theologe und in seinem Spezialgebiet Menschenrechte promovierte Philosoph auch zum VHS-Vortrag über Europa und die Menschenrechte ein etwas größeres Publikum ins Hansehaus. Um den aktuellen Fall von Folter und Menschenrechtsverletzungen durch US-amerikanische und britische Soldaten im Irak ging es dabei allenfalls am Rande.

Bielefeldt stellte die Entwicklung der Menschenrechte als recht junge Idee dar, zeigte ihre institutionelle Verankerung und zog schließlich die Türkei als Grenzfall in Betracht. Weder aus der Bibel, noch aus der antiken Philosophie und auch nicht aus der englischen Magna Charta seien die Menschenrechte entsprungen, sondern erst im 17./18. Jahrhundert nach blutigen Religions- und Bürgerkriegen - "als Antworten auf bestimmte politische Problemstellungen in sich modernisierenden Gesellschaften". Als Folge "rasanter Pluralisierung" und revolutionärer Umbrüche waren die Menschenrechte in Europa von Anfang an umstritten und blieben es bis zum Zweiten Weltkrieg.

Aus der erneuten "Krisenerfahrung" heraus setzte nach 1945 eine institutionelle Verankerung ein, zunächst im Europarat, "der für die Menschenrechte eine ganz entscheidende Rolle gespielt hat", so Bielefeld, dann über die Konferenz, später Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE/OSZE) und schließlich die Europäische Union. Besonders der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg als Institution des Europarates, der mehr Mitgliedsländer als die EU aufweist, hat dabei herausragende Bedeutung.

Grundrechte - allenfalls wirtschaftliche - waren für die Vorläufer der EU ursprünglich kein Thema. Erst ab 1990 häuften sich die Hinweise, meist mit Verweis auf den Europarat. Doch Ende der 90er erarbeitete die EU-Grundrechtskommission unter Leitung des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog eine Charta. "Sie ist in vieler Hinsicht innovativ, aber bislang nur ein politisches Dokument ohne Rechtsgeltung", so Bielefeldt. Fraglich sei, ob die Grundrechte-Charta in die EU- Verfassung eingehe, welche Rolle der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg dann übernehme und wie sich künftig EU und Europarat zueinander verhielten. Problematisch ist gegenwärtig auch noch die in den unterschiedlichen Sprachen abweichend verfasste Präambel: Wo im Deutschen vom geistig- religiösen Erbe die Rede ist, steht im Englischen und Französischen das spirituelle Erbe. "Klar ist, dass die EU kein ,ChristenclubÕ ist", so Bielefeldt.

Auch wenn die Türkei auf Grund von Menschenrechtsverstößen, Folter, Diskriminierung von Minderheiten und ausgeprägtem Etatismus noch weit von einer EU-Mitgliedschaft entfernt zu sein scheint, so habe sich das Land doch mit der Aufnahme in den Kandidatenstatus auf dem EU-Gipfel 1999 in Helsinki auf den Aufnahmeprozess eingelassen und "erstaunlich viele Reformen", wie die Abschaffung der Todesstrafe und die Bestrafung von Folterern, in Gang gesetzt. Dies könnte "brutal gestoppt" werden, wenn der Türkei die Aufnahme in die EU langfristig verweigert wird.

Bielefeldt warnte vor einer Instrumentalisierung der Menschenrechte für politische Zwecke ebenso wie davor, "Menschenrechte und kulturelle Fragen zu vermengen". Denn dies führe dazu, "den Anspruch der Menschenrechte im Kern zu zerstören".

In der Diskussion unter Leitung von VHS-Direktor Dr. Udo Witthaus wurde klar, dass nicht nur Christen in der Türkei benachteiligt werden, sondern auch dem Islam in Deutschland der Rechtsstatus als Kirche verweigert wird. Religionsfreiheit als Gleichberechtigungsanspruch sei nicht eingelöst, so Bielefeldt. Kritisch kam zur Sprache, dass in Gesetzeskommentaren, zwar noch in der Minderheit, "Folter wieder denkbar, sogar langsam wieder salonfähig" werde. Der abschließende Hinweis auf die informationelle Selbstbestimmung des Menschen und Datenschutz als Menschenrecht ließ Heiner Bielefeldt resümieren: "Es ist ein permanenter Kampf."


mt@mt-online.de

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