www.hiergeblieben.de

Gemeindebrief der ev.-ref. Kirchengemeinde Detmold-West , 31.01.2002 :

Zerbrochene Kindheit / Eine jüdische Familie aus Heidenoldendorf hat den Nationalsozialismus überlebt

Von Gertrud Wagner

Sie ist 1931 in Heidenoldendorf geboren. Ihre Eltern besaßen dort ein kleines Haus. Auf dem ältesten Foto von ihr sieht man sie zwischen ihren Brüdern, die stolz die kleine Schwester an der Hand halten. Ein Foto als Dokument einer glücklichen Kindheit? Zunächst ja. Doch zunehmend muss Ruth Ehrmann befremdende Erfahrungen machen. Von ihrem Lehrer wird sie manchmal Judenkind genannt. Am 9. November 1938 klingelt es morgens um 4 Uhr an der Tür. Keine Zeit für Besuche! Ein Freund der Familie will sie warnen: "Versteckt euch! In Detmold brennt die Synagoge!" Zwei Stunden später wird der Vater verhaftet. Die Familie wird gezwungen aus der eigenen Wohnung auszuziehen, von nun an leben sie auf dem Dachboden im eigenen Haus. Ihr Vater wird freigelassen, verliert aber seine Arbeit. Ab jetzt kann die Siebenjährige ihre Umgebung nur noch in solche einteilen, die zu ihr halten, und solche, vor denen sie sich in Acht nehmen muss. Ruth muss nun lernen ein "jüdisches Kind" zu sein. Da ihre Mutter nach Hitlers Rassegesetzen "arisch" ist (sie war bei ihrer Heirat zum Judentum übergetreten), hat die Familie noch einen gewissen Schutz. Aber Ruth darf nun nicht mehr in die öffentliche Volksschule gehen, sondern nur noch in die provisorisch eingerichtete, kümmerliche jüdische Notschule in Detmold, Gartenstraße 6. Den drei Geschwistern ist es noch erlaubt, als "Halbjuden" mit der Straßenbahn nach Detmold zu fahren, doch wenn die Bahn zu voll ist, müssen sie aussteigen und zu Fuß weitergehen. Ab und an werden sie dabei mit Steinen beworfen oder angespuckt. Mit Beginn des Krieges am 01.09.1939 wird der Alltag noch schwieriger.

Ein guter Freund, der sie bisher oft schützen konnte, wird eingezogen. Die Lebensmittelkarten sehen für Juden nur halbe Portionen vor. Aber es gibt noch immer treue Freunde. So begleitet Tante Martha W. die Kinder manchmal zur Schule, um sie vor den Anfeindungen "arischer" Kinder zu schützen. Ruth bekommt auch etwas von den erfolglosen Bemühungen der Eltern um Auswanderung mit. Sie hört, dass Angehörige der Jüdischen Gemeinde "in den Osten" verschickt werden. Es ist unheimlich, dass Menschen, die sie kannte, einfach verschwinden. 1942 musste auch die jüdische Notschule schließen. 1943 wurden der Vater und die Brüder in ein Arbeitslager nach Bielefeld gebracht. Einmal fuhr sie mit der Mutter nach Bielefeld, um die drei zu besuchen. Der Vater und die großen Brüder hatten immer Schutz für sie bedeutet, jetzt erlebt sie, wie die drei selber hilflos sind. Schließlich wurden Vater und Brüder in die Lager Zeitz und Overlock verschickt, wo die Mutter sie noch einmal besuchte. Der Vater und Karl kehrten von dort zurück, von Hans kam eine Postkarte: "Ich bin auf dem Weg zu Tante Irmgard." Das war in der Familie das verabredete Stichwort für das KZ Theresienstadt.

Fast am Ende des Krieges, im Februar 1945, wurden schließlich der Vater und Karl zusammen mit der inzwischen 14-jährigen Ruth auch nach Theresienstadt deportiert. Dort geriet sie in ein Lager, in dem inzwischen chaotische Zustände herrschten. Die Überlebenden der "Todesmärsche" aus den aufgelösten KZs im Osten kamen in dem bei Prag gelegenen Lager ausgehungert oder schon halbtot an. Ruth wäre fast an einer Mandelentzündung gestorben, eine Typhusepidemie brach aus, bei der auch nach der Befreiung des Lagers durch die russische Armee noch viele starben.

Im Sommer 1945 findet sich die Familie Ehrmann in Heidenoldendorf wieder zusammen. Sie sind alle noch am Leben, das ist ein Wunder! Der Vater versucht nun das kleine Häufchen der nach Kriegsende zurückgekehrten Juden, die auch nach dem Bekanntwerden des millionenfachen Mordes an den europäischen Juden erfahren mussten, dass sie unerwünscht waren, in einer Gemeinde in Detmold zu sammeln. Aber der Antisemitismus war auch hier nicht vorbei. Wilhelm Ehrmann musste erfahren, wie deprimierend es war, um die Rückgabe jüdischen Eigentums, auch des Eigentums der Jüdischen Gemeinde, bei den Behörden zu kämpfen. Ihn erschreckte auch, wie die wegen nationalsozialistischer Straftaten verurteilten Detmolder vorzeitig aus den Gefängnissen entlassen wurden. Das war der Grund für den Entschluss, 1949 mit der Familie nach Israel auszuwandern. Und so lebt Ruth heute mit ihrem Mann Benjamin im Kibbuz Maayan Zwi. Sie haben drei Kinder und 14 Enkel.

Wenn ich heute an ihre große Familie in Israel denke und mir ihre Lebensgeschichte vorstelle, fällt mir ein Satz aus der Josefsgeschichte ein: "Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen." 2. Mose 50, 20


zurück