Lippische Landes-Zeitung ,
18.05.2004 :
Ohne Reifeprüfung / Heftige Kritik an Verfahrensweise des Ausländeramtes im Fall Günay Muradova
Von Stefan Derschum
Detmold/Bielefeld. Günay Muradova hat an ihrer Zukunft gebaut. Das bestätigen viele der Menschen, die die 19-Jährige in den vergangenen Jahren kennen gelernt haben. Seit der Flucht mit ihren beiden Geschwistern und ihrer Mutter vor fünf Jahren aus Aserbeidschan lebte Günay Muradova in Detmold und nutzte die Zeit, um bei dem Verein "Paulines Töchter" nicht nur Computerkurse zu besuchen, sondern später ihre Kenntnisse als Kurshelferin auch weiterzugeben. Diese Bildungsarbeit in eigener wie fremder Sache wird vermutlich abrupt enden: Am 25. Mai wird Günay Muradova, die seit einem Monat in Bielefeld lebt, voraussichtlich abgeschoben.
Die junge Aserbeidschanerin lernte sich auch von der Hauptschule ins Gymnasium Leopoldinum hoch, wo sie in etwa acht Wochen ihre Fachoberschulreife in den Händen hielte. Doch dieses Reifezeugnis wird sie wohl nicht mehr kennen lernen. Für kommenden Dienstag steht derzeit Abschiebung statt Unterricht im Kalender.
Die Detmolder Ratsfraktion der Bündnisgrünen ist bereits in die Offensive gegangen, als sie am vergangenen Freitag in einem Schreiben an den Detmolder Rat und Bürgermeister Friedrich Brakemeier (die LZ berichtete) um eine Aussetzung der Abschiebung wenigstens "bis zum Ende des Schuljahres" bat. Nun formiert sich auch bei "Paulines Töchtern" und im Leopoldinum eine Front gegen die Praxis der Detmolder Ausländerbehörde.
Schulleiter Herbert Everding übt in seiner Stellungnahme keine grundsätzliche Kritik an der Entscheidung über die Abschiebung der Familie Muradova: "Gerichte haben entschieden, das muss akzeptiert werden. Es geht hier nicht darum, gegen den Rechtsstaat zu opponieren." Für Herbert Everding, seine Kollegen und die Schüler gibt indes die behördliche Spielart der Umsetzung Anlass zum Widerstand. "Warum wird dem Mädchen nicht wenigstens noch Zeit gelassen, um einen vernünftigen Abschluss zu machen?", verpackt er seine Kritik als rhetorische Frage. Und er betont die ethische Fragwürdigkeit des engen Zeitrahmens, den die Ausländerbehörde gesetzt habe: "Günay hätte gute Chancen gehabt, ihre Fachoberschulreife zu schaffen. Das muss doch bei der Festlegung des Abschiebetermins berücksichtigt werden. Auch in einem Rechtsstaat darf der Aspekt der Menschlichkeit nicht vergessen werden."
Zudem vermisse er Amtshilfe von Seiten der Ausländerbehörde. "Ich bekam alle Informationen nur von der Schülerin und konnte so lediglich reagieren. Wie beim knappen Zeitfenster kann ich auch hier der Behörde einen Vorwurf nicht ersparen", besitzt die Kritik Herbert Everdings ebenso eine behördliche Facette. Deshalb habe die Schulleitung des Leopoldinums eine Unterschriftenaktion der Schülervertretung ausdrücklich unterstützt.
Mehr als 500 Unterschriften standen gestern nach der großen Pause auf der Seite Günay Muradovas, deren Fall kurzfristig auch auf die Tagesordnung der abendlichen Schulkonferenz gehoben wurde. Herbert Everding rechnete mit einer der Aussage der Unterschriftenaktion entsprechenden Stellungnahme, die mit den Namenslisten an die Ausländerbehörde, an Detmolds Bürgermeister und an Eberhard David, Bielefelds Oberbürgermeister, überreicht werden soll.
Günay Muradova lebt zurzeit wie ihre beiden 13- und 16-jährigen Geschwister in Bielefeld. Sabina Gräf von „Paulines Töchter" hat zu der 19-Jährigen ein Vertrauensverhältnis aufgebaut und hatte zusammen mit Herbert Everding bereits im Herbst bei der Detmolder Ausländerbehörde versucht, die Bedingungen einer drohenden Abschiebung abzumildern. Oder sie gar zu verhindern: „Es gab für Günay sogar zwei Familien, die bereit gewesen wären, sie zu adoptieren. Doch uns wurde erklärt, dass eine Adoption den Aufenthaltsstatus nicht verändere", berichtet Sabine Gräf.
Sie erklärt auch, dass die Mutter Günays mit den drei Töchtern Mitte April auf Rat einer Anwältin hin nach Bielefeld umgezogen sei -"wohl, um das Verfahren noch herauszuzögern". Möglicherweise ein juristischer Irrtum mit fatalen Folgen: Sabine Gräf vermutet, dass das Schreiben der Ausländerbehörde vom 22. April über den Rückführungstermin am 25. Mai eine direkte Reaktion auf diesen Umzug gewesen sei.
Mittlerweile ist die Mutter in Abschiebehaft genommen worden, und Günay Muradova hat gestern nicht weiter an ihrer Zukunft gebaut. Sie erschien nicht im Leopoldinum. Sie sagt: "Ich muss erst abwarten, was noch passiert. Aber ich glaube, dass das Ausländeramt den Termin einhalten wird."
Doch vielleicht besteht noch Hoffnung - zumindest auf die Mittlere Reife. Gestern Abend hieß es von Seiten der Stadtverwaltung unerwartet, dass über eine juristische Lösung intensiv diskutiert werde. Sprecherin Petra Schröder-Heidrich räumte dabei ein: „Das bezieht sich aber ausschließlich auf die Möglichkeit eines Schulabschlusses. Alles andere wird passieren."
detmold@lz-online.de
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