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Bielefelder Tageblatt (OH) / Neue Westfälische , 06.01.2009 :

Vor 70 Jahren: Eine Irrfahrt mit tragischen Folgen / Neue Ravensberger Blätter über jüdisches Leben und jüdische Schicksale

Von Thomas Güntter

Bielefeld. Das vergangene Jahr war für die jüdische Geschichte ein Besonderes. 1938, vor 70 Jahren, brannten die Nazis überall in Deutschland die Synagogen nieder. Betroffen war auch die Bielefelder Synagoge an der Turnerstraße. Im September des vergangenen Jahres zog die Jüdische Kultusgemeinde in die neue Synagoge an der Detmolder Straße. Dies dürften die aktuellen Eckpunkte für das zweite Jahresheft des Historischen Vereins gewesen sein. Die Ravensberger Blätter beschäftigen sich mit jüdischem Leben und jüdischen Schicksalen.

Es war die St. Louis, das eleganteste Kreuzfahrschiff der Hamburg-Amerika-Linie, das im Mai 1939 Schauplatz für eine tragische Irrfahrt wurde. Das Schiff sollte über 900 jüdische Emigranten nach Kuba retten. Darunter waren auch einige Juden aus Ostwestfalen und Bielefeld. Allerdings verweigerte Kuba den Menschen die Einreiseerlaubnis. Am 6. Juni musste die St. Louis wieder zurück nach Europa.

Die jüdischen Passagiere wurden aufgeteilt auf England, Frankreich, die Niederlande und Belgien. Eine echte Überlebenschance hatten nur die Menschen in England, das von den Deutschen nie eingenommen wurde. Ganz anders die Situation in Frankreich, Holland und Belgien. Diese Länder waren ganz oder zum Teil besetzt. Die jüdischen Passagiere waren in höchster Gefahr. Viele von ihnen wurden an die Deutschen ausgeliefert und in Konzentrationslagern ermordet. Monika Minninger, ehemalige Mitarbeiterin im Bielefelder Stadtarchiv erforschte akribisch das Schicksal der Juden aus Ostwestfalen.

Ebenfalls mit dem Dritten Reich befasst sich Archivleiter Dr. Jochen Rath. Das Thema seines Aufsatzes lautet: "Das Bielefelder Standesamt als rassenideologisches Verfolgungsinstrument – Die Beischreibung jüdischer Zwangsvornamen seit 1938". Die jüdischen Zwangsvornamen lauteten "Israel" und "Sara".

Seit 1931 wurde das Bielefelder Standesamt im Spiegels Hof an der Kreuzstraße 20 – heute sitzt dort das Naturkunde Museum – von Friedrich Cramer geleitet. Rath kommt in seinem Aufsatz zu dem Schluss, dass Cramer durch seinen Vorschlag einer von ihm geführten "Judenkartei" einen persönlichen Beitrag zur herrschenden Ideologie leistete und das Standesamt im Sinne der braunen Machthaber funktionstüchtig und fleißig war.

Die beiden anderen Beiträge befassen sich mit früheren Zeiten. Tobias Schenk schreibt über den Porzellanexportzwang und das Judenporzellan des Jacob Schiff. Dieser Beitrag behandelt die Zeit in der Mitte des 18. Jahrhunderts.

Klaus Böcker schreibt über den Bielefelder Georg Rothgießer, der mit Science-Fiktion-Geschichten auf sich aufmerksam machte. Rothgießer, in Hannover geboren, lebte von 1881 bis 1888 in Bielefeld. Er war Konstrukteur, Firmengründer und Pionier des neu aufkommenden Radsportes. So war er Gründungsmitglied des 1882 aus der Taufe gehobenen Bielefelder Velociopied-Clubs. 1942 wurde er, inzwischen über 80 Jahre alt, aus Berlin deportiert und 1943 im KZ Theresienstadt ermordet.

Das Heft kostet vier Euro und ist erhältlich im Stadtarchiv, Rohrteichstraße 19, und im Bielefelder Buchhandel.

Bildunterschrift: Neues Heft vor einer Zeichnung der jüdischen Synagoge in der Turnerstraße: (von links) Bärbel Sunderbrink, Dr. Monika Minninger, Klaus Böcker und Archivleiter Dr. Jochen Rath.


lok-red.bielefeld@neue-westfaelische.de

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