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Mindener Tageblatt , 27.12.2008 :

Mindener Juden fanden in Buchenwald den Tod / Auf Novemberpogrom folgt die Deportation / Mindestens vier Opfer sind namentlich bekannt / Misshandlungen und Schikane

Minden. Vier Juden aus Minden sind bekannt, die nach Pogrom und Verschleppung vor 70 Jahren den Tod im KZ Buchenwald fanden. Doch damit ist die Zahl der heimischen Opfer, die an dem mit dem Holocaust eng verbundenen Ort das Leben verloren, nicht erschöpft.

Von Hans-Werner Dirks und Kristan Kossack

Reichsweit sind im Gefolge des Pogroms ungefähr 35 000 männliche Juden im Alter zwischen 16 bis 60 Jahren verhaftet und auf die Konzentrationslager Sachsenhausen, Buchenwald und Dachau verteilt worden. Alle Juden aus Minden kamen in das Konzentrationslager Buchenwald, in dem zwischen dem 9. und 14. November 1938 9828 Juden festgehalten wurden.

Nach den täglichen Veränderungsprotokollen für das Pogromsonderlager Buchenwald sind am 12. November aus Bielefeld zwei Transporte mit je 249 beziehungsweise 157 Häftlingen angekommen.

Der Polsterer Isidor Simon aus Minden erklärte nach dem Krieg in seinem Wiedergutmachungsverfahren, dass er in der Nacht vom 9. auf den 10. November von Gestapoleuten in Zivil aus seiner Wohnung in die Polizeiwache am Domhof gebracht worden sei. Am nächsten Tag sei es mit dem Zug über Bielefeld nach Weimar gegangen. Hier und später in Buchenwald seien die Häftlinge zur "Begrüßung" geschlagen worden.

Laut Begleitband zur historischen Ausstellung im ehemaligen KZ-Buchenwald mussten die Häftlinge durch ein Spalier von Wachmannschaften hindurch, die mit Stöcken und Eisenstangen auf sie einschlugen. Da die Häftlingsbaracken noch nicht fertig waren, wurden sie anschließend gezwungen, zum Teil mehrere Tage lang, auf dem nass-feuchten Appellplatz, entweder in strammer Haltung stehend oder im Schneidersitz, zu verbringen. Die Notdurft mussten alle an Ort und Stelle verrichten.

Als weitere Schikane wurde die Kohlsuppen-Mahlzeit für je vier Häftlinge in einer einzigen Blechschüssel und ohne Löffel verabreicht. Das Pogromsonderlager bestand aus fünf 100 Meter langen und 12 Meter breiten Baracken ohne Fenster, die sich auf einem etwa 10 000 Quadratmeter großen Areal befanden. Außerdem gab es zwei offene Latrinen. Das ganze Gelände war vom übrigen Lager durch einen zusätzlichen Stacheldrahtzaun abgetrennt. In den Baracken gab es keine sanitären Einrichtungen, keine Heizung und keine Bodenfundamente, so dass die engen Schlafregale häufig im Schlamm standen.

Hilflos der Willkür der SS-Wächter ausgeliefert

Zur weiteren Situation im Lager erklärten ehemalige Häftlinge später übereinstimmend: Der tägliche Arbeitstag habe zehn Stunden gedauert. Es habe sich um schwere körperliche Arbeit bei jedem Wetter, unter anderem in einem Steinbruch, gehandelt. Zusätzlich seien oft Strafappelle befohlen worden, das heißt stundenlanges Antreten auf dem Appellplatz in Reih und Glied bei jedem Wetter. Zur Schikane seien häufig auch nachts Kontrollen mit Hunden in den Häftlingsbaracken durchgeführt worden. Alle Lagerinsassen wären hilflos der Willkür und Brutalität der SS-Wachmannschaften ausgeliefert gewesen. Häftlinge, die irgendwie auffielen, riskierten tot geprügelt zu werden. Hunderte Häftlinge hätten in Buchenwald nur noch im Freitod einen Ausweg gesehen und seien in den Starkstrom-Lagerzaun gerannt. In Buchenwald kamen schon im ersten Monat nach ihrer Verhaftung 244 Häftlinge ums Leben.

Unter den ermordeten Buchenwalder "Schutzhäftlingen" befanden sich auch Mindener Juden: Rechtsanwalt Eugen Leeser fand am 20. November 1938 den Tod, der Friseur Max Simon am 15. Dezember 1938 und der Fabrikant Albert Weinberg am 21. Dezember 1938. Viehhändler Sally Strauss erlag erst ein Jahr nach seiner Entlassung den Verletzungen, die er durch die Misshandlungen in Buchenwald erlitten hatte.

Namentlich bekannt sind zwei weitere Mindener Juden, die während des Kriegs in Buchenwald ermordet wurden. Bevor das Novemberpogrom stattfand, hatte Heinrich Himmler im Frühjahr desselben Jahres die "Aktion Arbeitsscheu Reich" (ASR) angeordnet. Danach konnten auch Juden, die angeblich "angebotene Arbeit verweigert" hatten, nach Hinweisen aus regionalen Arbeits- und Wohlfahrtsämtern inhaftiert werden. Im April und Juni 1938 waren in zwei Verhaftungswellen ungefähr 10 000 Menschen von der Aktion betroffen. Sie war vermutlich auch ein Probelauf für die "Schutzhaftaktionen" beim Novemberpogrom.

Unter den ASR-Opfern befand sich der ehemalige Mindener Viehhändler Louis Edelstein. Im Adressbuch der Stadt Minden von 1935 ist noch die Viehhandlung von Louis Edelstein, geboren am 5. Mai 1885, in der Friedrich-Wilhelmstraße 127 verzeichnet. Nach der Aufgabe seines Geschäfts verzog Edelstein im April 1938 nach Hausberge in das "Judenhaus" am Kirchsiek 23 (zu damaliger Zeit Viktor Lutze Straße). Dort wurde er am 20. Juni 1938 im Rahmen von ASR verhaftet und ins Konzentrationslager Sachsenhausen eingeliefert. Aus Sachsenhausen kam er 1940 nach Dachau und von dort anschließend nach Buchenwald. Im KZ-Buchenwald ist Louis Edelstein (Häftlingsnummer 5757) am 2. März 1941 im "Krankenbau" nach offizieller Lesart "an Herz-Kreislaufschwäche" verstorben.

Emil Kahn (geb. 7. Oktober 1893) war zwischen 1934 und 1938 als Arbeiter bei der Firma Thalheimer in Wiedenbrück beschäftigt. Aus rassischen Gründen arbeitslos geworden, lebte er später nacheinander in Frille und Minden. Im Dezember 1941 wurde Kahn mit nach Riga deportiert. Aus Riga wurde er über Stutthof nach Buchenwald verlegt, wo er am 21. Februar 1945 nach Bekunden der Lagerverwaltung "an Lungenentzündung verstarb".

Hans-Werner Dirks aus Lavelsloh ist Diplom-Sozialwissenschaftler. Er arbeitet seit 1987 zur deutsch-jüdischen Emigration, unter anderem für die jüdische Kultusgemeinde Minden. Kristan Kossack aus Minden beschäftigt sich mit regionaler Zeitgeschichte (19. und 20. Jahrhundert) und hat diverse Veröffentlichungen verfasst (www.zg-minden.de).

Bildunterschrift: Nach der Deportation in das KZ Buchenwald mussten die Häftlinge antreten. Die SS fotografierte ihre Opfer, darunter auch jüdische Männer aus Minden, von der Balustrade des Haupttores aus. (Foto: American Jewish Joint Distribution Committee)

Bildunterschrift: In einem Nummernbuch erfasste die Lagerverwaltung alle eingelieferten Personen. Unter anderem Mindener Namen befinden sich in den Eintragungen. (Foto: Gedenkstätte Buchenwald)

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27./28.12.2008
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