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Bielefelder Tageblatt (MW) / Neue Westfälische , 14.09.2006 :

Die APO in Bielefeld / Bielefeld '66 bis '77: Warum sich die Menschen nicht helfen lassen wollen

Von Hans-Jörg Kühne

Bielefeld. 1966 endete das "Wirtschaftswunder". Die goldenen Jahre schienen plötzlich vorbei. Die Zuwachsraten des Bruttosozialprodukts fielen zeitweise unter das Nullwachstum. Die christdemokratische Regierung bekam die Krise mit den üblichen volkswirtschaftlichen Steuerungsmitteln nicht mehr in den Griff. Dabei hatten die sonst immer funktioniert. Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen trugen diese Verunsicherung in die Bevölkerung.

Die Intellektuellen behaupteten, dass das System der liberalen Marktwirtschaft überlebt und nun an seinem Endpunkt angekommen sei. Die Studenten der westdeutschen Universitäten verlangten gar eine Abschaffung des gesamten Verfassungssystems der Bundesrepublik.

Die "Außerparlamentarische Opposition" (APO) meldete sich zu Wort. Für sie gab es bald ganz klare Ziele, gegen die sich der offene Kampf lohnte: gegen den Vietnamkrieg der Amerikaner, gegen die Notstandstandsgesetze der Bundesrepublik Deutschland, gegen die alten Autoritäten, gegen die Verfassung, gegen den Kapitalismus, für eine lückenlose Aufklärung der nationalsozialistischen Vergangenheit, gegen das Schweigen der Väter und Großväter über ihre Verstrickungen in das NS-System, gegen überkommene Traditionen. Die Welle der Proteste brach los wie nach einem Dammbruch. Und sie erreichte auch Bielefeld.

Hier blieb das Mengenverhältnis jedoch lange Zeit ungerecht. Auf der einen Seite standen nur Wenige, die die Impulse aus den westdeutschen Universitätsstädten aufnahmen und zu Demonstrationen aufriefen. Auf der anderen Seite befand sich jene große Mehrheit, denen das alles vollkommen egal schien, so lange es sie nicht unmittelbar betraf.

Der Protest blieb in Bielefeld in seiner ersten Phase eine Äußerung von Privilegierten. Die Söhne und wenige Töchter vermögender Eltern, die sich die gute Ausbildung ihres Nachwuchses, das Studium, leisten konnten, lasen Marx und Engels und verschlangen die Schriften der Vertreter der Frankfurter Schule.

Sie hielten diese teilweise sehr schwierigen und auf hohem soziologisch-philosophischem Niveau einzuordnenden Texte für unmittelbar und, wenn nicht sofort, dann aber bald im Maßstab eins zu eins in die Realität umsetzbar. Das wiederum hatte etwas ungeheuer Gutgläubiges, wie überhaupt die Jugend- und Protestkultur dieser Jahre zur Gänze etwas Unschuldiges und sträflich Naives besaß.

Die soziologischen Theoreme wurden auf konsumierbare, leicht verständliche Häppchen zurechtgestutzt und dann "unters Volk" gebracht. Und trafen dort auf Ablehnung. Und das ausgerechnet und vor allem in der Bielefelder Arbeiterschaft, deren Befreiung aus den Fesseln des Kapitalismus sich die aufbegehrenden Schüler und Studenten doch zum Ziel gesetzt hatten!

Dabei hätten sie einfach nur einmal in den Bielefelder Osten fahren müssen, in den "5. Kanton", den ehemals berüchtigten "roten" Stadtteil. Hier hatte seit Menschengedenken die Sozialdemokratie die relative und absolute Hausmacht. Hier residierte die "Arbeiteraristokratie". Hier hatten viele engagierte Gewerkschafts- und Parteimitglieder sich nach harter Arbeit ein Haus gekauft, es an vielen Abenden und noch mehr Wochenenden mit Hilfe der gesamten Familie und Freunden hergerichtet und einen gepflegten Vorgarten mit Steingutzwergen und einer kleinen holländischen Windmühle angelegt.

Wenn man die Hausflure betrat, dann roch es dort immer nach Erbsensuppe mit Einlage. So und nicht anders war es. Ein lang erspartes und hart erarbeitetes kleines Glück. Jetzt war man endlich zufrieden und konnte den Kindern und Enkeln etwas vermachen. Was sollte daran schlecht sein?

Es war doch gut, dass man eine Arbeit bei Dickertmann, Dürkopp oder in der Ravensberger Eisenhütte hatte! Wenn dort die Bedingungen unerträglich wurden, dann konnte man sich an die Kollegen von der Gewerkschaft wenden! Alles war doch in bester Ordnung! Was wollten also diese langhaarigen Gammler, diese Kommunisten?


lok-red.bielefeld@neue-westfaelische.de

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