Westfalen-Blatt ,
17.11.2003 :
Ein Paket voll heißer Luft nur zum Gefallen der EU / Heute im Gespräch: Eren Keskin - Türkische Rechtsanwältin und Menschenrechtlerin
Detmold (WB). Immer wieder wird im Zusammenhang mit den Beitrittsverhandlungen der Türkei zur EU über Fortschritte in Menschenrechtsfragen berichtet. Viele stehen nach Ansicht von Eren Keskin nur auf dem Papier. Die Menschenrechtlerin setzt sich vor allem für Frauen ein, die Opfer sexueller Gewalt wurden. Gestern stellte sie sich in Detmold den Fragen von Bernhard Hertlein.
WB: Nicht nur die Türkei ist geschockt über die Anschläge in Istanbul. War die mörderische Tat vorauszusehen?
Eren Keskin: Der Schock ist riesengroß - selbst wenn viele so einen Anschlag befürchtet haben. Leider steht zu erwarten, dass die Regierung das Verbrechen ausnutzen und die Militärs die demokratischen Freiheiten weiter einschränken werden. Mich würde es nicht überraschen, wenn es Verbindungen zwischen den Attentätern und der Regierung gäbe. Zumindest gehe ich davon aus, dass der Staat durch seinen Geheimdienst von dem drohenden Anschlag unterrichtet war.
WB: Wie stark, schätzen Sie, sind die gewaltbereiten fundamentalistischen Kräfte heutzutage in der Türkei?
Eren Keskin: Wirklich militante Islamisten gibt es nur wenige. Und die meisten sitzen bereits in den Gefängnissen. Es ist eher so, dass diese kleine Gruppe von der türkischen Regierung benutzt wird, um in Wirklichkeit leichter gegen die Kurden und gegen einen möglichen Kurdenstaat im Irak vorgehen zu können.
WB: Nur gegen die Kurden?
Eren Keskin: Nicht nur. Die Kurden stellen die meisten Opfer. Aber in Wirklichkeit gegen alle, die für sich für das Recht auf freie Meinungsäußerung in Anspruch nehmen.
WB: Gibt es Einfluss von El Kaida?
Eren Keskin: Aus meiner Sicht in der Türkei nicht.
WB: Nicht zuletzt auf Druck der Europäischen Union hat die Türkei die Todesstrafe - jedenfalls in Friedenszeiten - abgeschafft. Wie steht es mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung?
Eren Keskin: Die Abschaffung der Todesstrafe ist natürlich ein positives Zeichen. Auf der anderen Seite werden jedoch Menschen in der Türkei immer noch aus politischen Gründen verhaftetoder gar einfach umgebracht.
WB: Wie steht es mit dem Recht auf Selbstbestimmung, vor allem für die Kurden?
Eren Keskin: Für Kurden hat sich nicht viel geändert. Sie haben weiterhin kein Recht über sich selbst zu bestimmen. Wer es trotzdem in Anspruch nimmt, muss damit rechnen, inhaftiert und gefoltert zu werden. Kurdische Eltern können bis heute ihren Kindern keinen kurdischen Namen geben. Auf Druck der EU haben sie zwar das Recht, Kurse in ihrer Landessprache zu erhalten. Doch das ist reine Theorie. In der Praxis behauptet die Regierung in Ankara , es fehlten kurdische Lehrer, um diesen Unterricht zu erteilen. Das ist eine Lüge. Genauso unrichtig ist die Behauptung, im Radio und Fernsehen würden nun kurdische Sendungen ausgestrahlt. Bis heute kenne ich keine einzige solche Sendung. Um Brüssel zu gefallen, hat die türkische Regierung ein schönes Pakez geschnürt. Doch drinnen ist nur heiße Luft.
WB: Auch in der Türkei ist Folter nicht erlaubt. Wird das Verbot inzwischen beachtet? Und werden die Polizisten, die trotzdem dagegen verstoßen, wenigstens bestraft?
Eren Keskin: Das sind ganz wenige Einzelfälle, mit denen die EU beruhigt werden soll. Die Strafen waren minimal. Tatsächlich brauchen Polizisten und Armeeangehörige, die in der Türkei foltern, auch weiterhin keine Strafverfolgung zu befürchten. So lange die Militärs die wirkliche Macht in den Händen halten, wird sich daran nichts ändern.
WB: Wie groß ist die Gefahr für inhaftierte Frauen, dass sie auf Polizeistationen und in Gefängnissen in der Türkei sexuell belästigt werden?
Eren Keskin: Die Gefahr ist nach wie vor sehr groß. Allein unser Büro in Istanbul betreut im Augenblick 178 solcher Fälle. Dabei ist die Dunkelziffer riesengroß. Denn wenn Frauen, die von Sicherheitskräften vergewaltigt oder anderswie sexuell missbraucht wurden, dies bekannt machen, müssen sie und ihre Familie um ihr Leben fürchten.
WB: Wie frei können Sie selbst heute in der Türkei agieren?
Eren Keskin: Wegen einer Äußerung im Ausland wurde ich mit einem einjährigen Berufsverbot bestraft. Etwa einhundert weitere Verfahren sind gegen mich anhängig. Die Ursachen sind frei erfunden. Dem gleichen Ziel, mich mundtot zu machen, dienen auch die Todesdrohungen, die beinahe täglich in meinem Büro eingehen. Ich kann nicht sagen, dass ich mich daran gewöhnt habe. Aber sie gehören zum Alltag einer Menschenrechtsverteidigerin in der Türkei.
Zur Person
"Meine Arbeit ist meine Lebenseinstellung", sagt die Rechtsanwältin und Menschenrechtlerin Eren Keskin. Dafür riskiert sie Anklagen und Todesdrohungen.
Im September 1994 wurde Keskin in der Türkei erstmals zu zwei Jahren Haft verurteilt, weil sie in einem Brief an das belgische Parlament das Schweigen der internationalen Öffentlichkeit zu den Menschenrechtsverletzungen an Kurden kritisiert und dabei das Wort "Kurdistan" benutzt hatte. 1999 vertrat sie den PKK-Führer Abdullah Öcalan vor Gericht.
Heute sind mehr als 100 Verfahren gegen Eren Keskin anhänglich. Die Istanbuler Anwaltskammer belegte sie im November 2002 mit einem einjährigen Berufsverbot. Die meisten beziehen sich auf ihre Arbeit als Leiterin des Istanbuler Büros des türkischen Menschenrechtsvereins IHD und ihren Einsatz für Opfer sexueller Gewalt.
Eren Keskin ist im Jahr 2001 von der deutschen Sektion amnesty internationals mit dem Menschenrechtspreis ausgezeichnet worden.
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