Paderborner Kreiszeitung / Neue Westfälische ,
08.11.2008 :
Sonderseite / "Joseph, sie verbrennen die Synagoge" / Wie sich Ehrenlandrat Köhler an die Ausschreitungen in Paderborn erinnert
Von Simone Flörke
Paderborn. Geboren wurde er am Ikenberg im Schatten des Paderborner Domes. "Wenn ich zur Schule am Busdorfwall ging, kam ich acht Jahre lang jeden Morgen an der jüdischen Synagoge vorbei", erinnert sich Joseph Köhler. "Ein Achteck, ein großer Bau, mit einer Mauer und einem Zaun drumherum." 18 Jahre alt war der heute 88-Jährige, als das jüdische Gotteshaus am Tag nach der Pogromnacht brannte.
"Erinnerung ist immer etwas sehr Persönliches", sagt der Ehrenlandrat des Kreises Paderborn und ehemalige Landtagsabgeordnete. Dennoch sei sie wichtig, "um eine Lehre daraus zu ziehen, wozu der Mensch fähig ist". Er erinnert sich gut an die jüdischen Bürger in Paderborn, an die Geschäfte, in denen er den Kommunion-Anzug kaufte oder die Textillumpen verkaufte. Und an den Einheitspreis-Laden, in dem es Käse und Butter für 25 Pfennige gab, so dass sich das auch die armen Familien damals leisten konnten. Und er weiß noch, dass kurz nach Adolf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 jemand mit dem Hitlergruß in die Klasse kam.
"Bereits 1933 gab es erste Juden-Boykotte – die SA stand vor den Läden und rief dazu auf, nicht bei Juden zu kaufen." Trupps der Hitler-Jugend seien durch die Stadt gelaufen, einer habe vorweg gebrüllt "Juda", dann die anderen "verrecke". Schaufenster der Geschäfte seien mit so genanntem Wasserglas und mit Tapeten verklebt worden, auf die Parolen geschmiert worden seien. Joseph Köhler ging noch zur Schule, da wettete er 1933 mit den Mitschülern: "Entweder Hitler wird Kaiser oder es gibt Krieg."
Weil er sich beharrlich geweigert habe, in die Hitlerjugend einzutreten, habe er nach der Volksschule keine Lehrstelle bekommen – obwohl zunächst zwei Zusagen da waren. Also wurde er Hilfsarbeiter, schuftete 48 Stunden in der Woche in einer Seifenfabrik an der Balhorner Straße. So auch am 9. und 10. November 1938. "Damals waren in allen Geschäften die Scheiben zerschlagen worden – deshalb auch der Name Reichskristallnacht. Das Glas lag überall in den Straßen." Jüdische Läden seien ausgeraubt, Juden in so genannte Schutzhaft – so die Nazis – genommen worden.
"Als wir am 10. November Feierabend hatten und nach draußen gingen, hieß es: Die Synagoge brennt." Mit seinem Kollegen Franz Ebbes sei er damals zum Busdorfer Tor gegangen: "Dort lagen auf einem großen Platz Schläuche, die Feuerwehr war dort. Aber die Synagoge brannte nicht." Dann sei ein Fass mit einer brennbaren Flüssigkeit hineingebracht worden – und die Flammen loderten. Ein Feuerwehrmann habe die Thora aus dem Gotteshaus geholt und sie zum ersten Paderborner Erzbischof Caspar Klein gebracht, wo sie bis nach dem Krieg aufbewahrt worden sei.
"Die Leute, die dort auf dem Platz standen, wirkten auf mich ziemlich bedrückt", erinnert sich Joseph Köhler. "Man brauchte ihnen nur in die Gesichter schauen." Mit Franz Ebbes zusammen sei er weggegangen. Und der Kollege habe ihm auf dem Weg nach Hause etwas gesagt, das er bis heute im Wortlaut nicht vergessen hat: "Joseph, sie verbrennen die Synagoge – und sie meinen den Menschen. Nach diesem Feuerrausch kommt der Blutrausch."
Am 16. April 1945 in den Krieg
Nach seiner Hilfsarbeiter-Tätigkeit in Paderborn wurde Joseph Köhler 1939 in eine Barackenlager nach Braunschweig beordert, wo er Gräben für Gasleitungen ausheben musste. Danach wurde er bei der Bahn dienstverpflichtet, wurde im Januar 1940 Soldat bei der Luftwaffe und unterrichtete an einer flugtechnischen Schule. Am 16. April 1945 begann für ihn doch noch der Krieg. Kurz drauf kam er in Gefangenschaft.
Bildunterschrift: Riesiges Oktagon: Der Schulweg führte Joseph Köhler einst an der ehemaligen Synagoge am Busdorf vorbei. Anhand eines Bildes, das in der Ausstellung im Stadtmuseum zu sehen ist, spricht der 88-Jährige über seine Erinnerungen.
Bildunterschrift: Übergriffe auf jüdische Geschäfte: Ein Menschenauflauf vor dem Einheitspreisgeschäft im Schildern in Paderborn. Auf dem Plakat steht: "Die Juden sind unser Unglück – kauft nur bei Christen".
Misshandlungen und Diebstähle / Juden in die Lippe getrieben, Kultgegenstände entwendet
Kreis Paderborn. Misshandlungen gab es in Bad Lippspringe: In der Badestadt waren am Abend der Pogrome sechs jüdische Männer von einer Menschenmenge – vor allem SA-Leute und Angehörige der Postschutzschule – gewaltsam aus ihren Wohnungen geholt und mit Fausthieben und Fußtritten ins Hotel Peters gebracht worden, wo man sie an die Wand stellte und mit Erschießung drohte.
Anschließend habe man sie für 20 Minuten ins eiskalte Wasser der Lippequelle gezwungen. Kreisarchivar Wilhelm Grabe: "Zwei Personen sollen dabei fast ertrunken sein." Tags drauf hätten man sich damit gebrüstet, den Juden das Schwimmen gelernt, sie in der Lippequelle getauft zu haben. Der Prozess gegen die Hauptangeklagten endete 1949 mit Freispruch, was die überregionale Presse als "Schande von Paderborn" betitelte.
In Haaren gab es eine große Gemeinde von Landjuden (die NW berichtete über die Forschung von Jost Wedekin). Ihr Betsaal im Haus Emmerich war am Nachmittag des 10. November durch eine SS-Abteilung aus Büren ausgeraubt worden. Abends hätten SA-Leute aus Essentho und Horn/Lippe das Zerstörungswerk fortgesetzt.
Historiker und Buchautor Wedekin aus Schloß Neuhaus ergänzt, dass männliche Juden – einige weit über 60 Jahre alt – am Nachmittag dieses Tages von Polizei und örtlicher SA zusammengeholt, im Spritzenhaus an der Helmerner Straße eingesperrt und am Abend mit einem Lastwagen nach Paderborn gebracht worden seien. Nachdem man lange nach eine Lkw-Besitzer gesucht hatte, der diese Aufgabe übernehmen wollte. Er lieferte die Festgenommenen im Gefängnis an der Königsstraße ab. Der Betsaal sei mit Äxten und Brechwerkzeugen vollständig zerstört worden: "Urkunden und Thora-Rollen wurden mitgenommen. Alle Kultgeräte sind seitdem verschwunden."
Auch Wohnhäuser und Geschäfte wurden verwüstet, Waren, Autos und sogar Sparbücher gestohlen: Als ein Kommando aus Essentho eintraf, wieder die Tür des Hauses Emmerich aufbrach und die kleine Tochter der Familie Sax ängstlich aufschrie, habe einer der Männer gerufen: "Schmeißt das Balg zum Fenster raus."
Die Lichtenauer Synagoge war Wochen vor dem Novemberpogrom verkauft worden, das Gebäude blieb unbehelligt. In Bad Wünnenberg verhielt es sich mit dem Betraum ähnlich. Vier Wohnungen von Juden in Lichtenau sowie weitere in Altenbeken, Husen, Etteln und Brenken wurden angegriffen.
Bildunterschrift: Betraum: Im Haus Emmerich in Haaren.
Es blieb nicht beim Radaumachen / Mutiger Polizist in Salzkotten niedergestreckt
Salzkotten (sf). Gut zwei Prozent betrug der jüdische Bevölkerungsanteil um 1933 in Salzkotten – "das Doppelte des Reichsdurchschnitts damals", sagt Historiker Dr. Detlef Grothmann aus Paderborn. Er hat sich für ein Werk über die Sälzerstadt mit der Geschichte vor, während und nach dem Krieg befasst, die er in einer Vortragsreihe vorstellt. Dazu gehören die Geschehnisse im November.
Am 9. November spät abends habe der Bürgermeister einen Anruf vom Kreisorganisationsleiter der NSDAP in Paderborn erhalten mit dem Befehl, mit Hilfe der SA sofort die Fenster in jüdischen Geschäften und Privathäusern einzuschlagen und die Synagoge in Brand zu setzen. Obwohl der Bürgermeister Ausschreitungen verbat, kam es beim "Radaumachen" durch die SA-Leute – ein Teil sei nach der Gedenkfeier zum Hitler-Ludendorff-Putsch (1923) alkoholisiert gewesen – gerade dazu. Grothmann: "Sechs bis acht SA-Männer gingen zur Synagoge an der Vielser Straße, öffneten die Tür und zertrümmerten binnen 60 Minuten Fenster und Inventar einschließlich Altaraufbau."
Auch neun Gebäude jüdischer Bürger seien demoliert worden. Einschließlich des Zimmers des Postschaffners Neumann, der bei Familie Kleeberg wohnte. Dieser wandte sich an den Bürgermeister und der an die Polizei. "Heinrich Meyer war ein rechtschaffener Mann, ging in Zivil zur Synagoge, wo er die Beteiligten zur Rede stellen wollte. Er wurde von einem SA-Mann mit der stumpfen Seite einer Axt niedergestreckt", berichtet Grothmann.
Der Ortsgruppenleiter habe am Morgen des 10. November mit dem Vorsteher Isaak Auerbach den Eingang zur Synagoge mit Holzlatten vernagelt. Dann seien durch zwei Gestapo-Beamte und SS-Leute 16 jüdische Männer in Salzkotten verhaftet, zur Wewelsburg und dann nach Buchenwald transportiert worden. Der NSDAP-Kreisorganisationsleiter aus Paderborn habe am Nachmittag auf die Brandlegung der Synagoge bestanden, der Ortsgruppenleiter ihn mit dem Vorschlag, sie abtragen zu lassen, hingehalten. Trecker und Maschinen wurden bis gegen Abend eingesetzt – ohne das gewünschte Ergebnis.
Danach sei Vergaserbrennstoff beschafft und gegen 20 Uhr die Synagoge in Brand gesetzt worden – laut Grothmann, der sich auf Aussagen von Überlebenden beruft, von "Auswärtigen". Mit einer Zugmaschine seien später die brennenden Balken und das brennende Mauerwerk heruntergerissen worden.
Bereits im Mai und Juni 1945 begannen die Ermittlungen zum Synagogenprozess. Am 17. Januar 1949 das Urteil: Bürgermeister und Ortsgruppenleiter wurden freigesprochen, der SA-Führer bekam ein Jahr Gefängnis.
Bildunterschrift: Völlig zerstört: Die Synagoge Salzkotten steht am Abend in hellen Flamen – trotz der engen Bebauung.
Unter Aufsicht in Brand gesetzt / 42 Personen in Büren in Schutzhaft genommen
Büren (sf). "In den späten Abendstunden des 9. November 1938 wurden die Scheiben der Bürener Synagoge eingeworfen", berichtet Wilhelm Grabe vom Kreisarchiv. "Am Morgen des folgenden Tages wurde die Synagoge von Hitler-Jugend in Zivil verwüstet und geplündert. In der Nacht auf den 11. November wurde das Gebäude schließlich unter Aufsicht der Feuerwehr in Brand gesetzt."
Die Unruhen in Büren begannen am 10. November morgens zwischen 7 und 8 Uhr: Am Vormittag seien Jugendliche, vermutlich HJ in Zivil – in die Synagoge eingedrungen, hätten Einrichtungsgegenstände und die Wohnung der Familie Levy zerstört, weiß Stadtarchivar Hans-Josef Dören. Vor der Synagoge an der Detmarstraße habe man ein Feuer entfacht, in dem Kultgegenstände und Haushaltsgeräte verbrannt wurden. Kinder seien mit den geweihten Gebetsrollen in der Stadt herumgelaufen. Vikar Johannes Dröge habe angesichts der sich im Straßenschmutz entrollenden Thora die Hände überm Kopf zusammengeschlagen und gerufen: "Das ist doch unser heiliges Buch, das ist doch unser Altes Testament."
Am Nachmittag seien einige Männer aufs Dach der Synagoge geklettert und hätten die Türmchen und die aus Blech gefertigte Kuppel herunter geworfen. Das schon schwer demolierte Gotteshaus sei in der Nacht zum 11. November in Flammen aufgegangen – mittels eines Fasses Benzin. Die Feuerwehr sei schon vor dem Brand verständigt worden, habe sich aber darauf beschränkt, die umliegenden Häuser mit Wasser nass zu halten, um ein Übergreifen des Feuers zu vermeiden. Die Brandstifter blieben unbekannt.
Der damalige Landrat in Büren berichtete an die Bezirksregierung in Minden, es seien 42 Personen "in Schutzhaft" genommen und nach Buchenwald transportiert worden. "Zu Misshandlungen, Verletzungen oder Tötungen ist es hierbei nicht gekommen."
Bildunterschrift: Mit Türmen und Kuppel: Die Bürener Synagoge, wie sie vor der Zerstörung aussah.
Gedenken im Paderborner Land
Paderborn:
Ausstellung "Ausgegrenzt – ausgelöscht: Jüdisches Schicksal in Paderborn 1933 bis 1945" bis zum 22. Februar im Stadtmuseum.
Salzkotten:
Vortrag am Freitag, 14. November, um 19 Uhr im Heimathaus von Dr. Dina van Faasen: "Zutritt verboten – zur Geschichte der Betteljuden";
Gedenkfeier am Sonntag, 16. November, um 18 Uhr auf dem Isaak-Auerbach-Platz;
anschließend Vortrag von Dr. Bernd Wacker: "Im Schatten von St. Johannes – Bilder der Synagoge" im Ratssaal.
Haaren:
Ausstellung "Die Landjuden von Haaren" in der Volksbank für drei Wochen;
Buch "Die Landjuden von Haaren – eine fast vergessene Minderheit" von Jost Wedekin, erhältlich bei der Volksbank in Haaren oder bei Norbert Münster;
Gedenkfeier am jüdischen Friedhof am Samstag, 8. November, um 19 Uhr.
Delbrück:
Ausstellung 70 Jahre Reichspogromnacht in der Johann-Sporck-Realschule, Eröffnung am Sonntag, 9. November, um 11 Uhr.
Lichtenau:
Dokumentation der Klasse 10 b der Archenholdschule in der Volksbank in Lichtenau.
Gedenkfeier am jüdischen Friedhof am Samstag, 8. November, um 15 Uhr.
Altenbeken:
Gedenkfeier am Sonntag, 9. November, um 11.15 Uhr vor der Sparkasse.
Büren:
Gedenkfeier am Mahnmal am Sonntag, 9. November, nach dem Gottesdienst um 10.30 Uhr.
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Bildunterschrift: Lichtenau: Ehemalige Synagoge.
08./09.11.2008
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