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Mindener Tageblatt , 30.04.2004 :

Ein "Crashkurs" in jüdischer Ortsgeschichte / Landeshistoriker kritisiert Mängel im Petershager Jahrbuch "Alte Synagoge Petershagen - Menschen - Spuren - Wege"

Von Dr. Bernd-W. Linnemeier

Petershagen (mt). "Ei, wer kommt denn da?!" So hätte es Kurt Tucholsky wohl einleitend kommentiert: Ein neues Buch zur jüdischen Geschichte Petershagens ist auf dem Markt.

Es heißt "Alte Synagoge Petershagen - Menschen - Spuren - Wege" und wurde von der Arbeitsgemeinschaft (AG) Alte Synagoge Petershagen sowie von Uwe Jacobsen und Wolfgang Battermann als Historisches Jahrbuch Petershagen, Band zwei, im Selbstverlag der Ortsheimatpflege Petershagen herausgegeben (das MT berichtete). Ein äußerlich ansprechendes Paperback von 212 Seiten.

Umrahmt und eingeleitet wird das Buch durch einen Klappentext sowie ein qualitätvolles Geleitwort von Arno Herzig (Hamburg). Dann folgen elf Kapitel in nicht inhaltlich aufeinander aufbauender Reihenfolge, von denen fünf als "Zweitaufgüsse" älterer und neuerer Texte zur jüdischen Ortsgeschichte Petershagens gelten können. Die sind hier nicht zu kommentieren.

Zu betrachten sind vielmehr jene drei "Erstveröffentlichungen", die in dieser Eigenschaft stets deutlich hervorgehoben werden. Da wäre Kapitel VII. Das Autorenkollektiv Wolfgang Battermann, Berthold Fahrendorf-Heeren, Eckhard Hagemeier und Uwe Jacobsen unternimmt den Versuch einer "Revision und Entmythologisierung der Darstellungen des Novemberpogroms in Petershagen".

Nach überflüssigen Rückverweisen auf die eigenen Aktivitäten im Rahmen der AG holt man zum Rundumschlag aus. Zunächst wird verschiedenen Autoren unterstellt, einen "Mythos" zu schaffen oder zu transportieren - und dies als Teil einer "Rechtfertigungsstrategie der Nachkriegszeit" (S.110-112).

Ganz abgesehen davon, dass der vermeintliche Urheber der Legende, Kristan Kossack, sich wohl zu rechtfertigen wissen wird. Warum fließen so giftige Nebenbemerkungen in den Text ein, wie jene, dass ältere und neuere Erkundigungen zu den Ereignissen in und bei der Synagoge im November 38 "offenbar (...) nicht mit der erforderlichen Systematik durchgeführt" worden seien (S. 113)?

Verfolgt man die entsprechenden Fußnoten bis zu ihren Ursprüngen, so landet man bei einer (archivisch und mündlich belegten) Nachfrage des Jahres 1947, durchgeführt von einem Holocaust-Überlebenden, dem mangelnde Systematik vorgeworfen wird.

Kurvenreicher Tunnelblick

Und was hat es mit den seitenlangen Exkursen zum Pogromgeschehen in Hausberge und Umgebung (S.115-117; 130-132) für eine Bewandtnis, während die - auch inhaltlich nähergelegenen - Vorgänge in Frille und Schlüsselburg unerwähnt bleiben? Diagnose: "Kurvenreicher Tunnelblick", der die "erforderliche Systematik" bei der Darstellung der Ereignisse vermissen lässt. Statt dessen wird einem Autor unterstellt, den Beleg für seine Aussagen "schuldig zu bleiben" (S. 125) - was objektiv unrichtig ist.

Man beschränkt sich nicht auf die minutiöse Suche nach dem Haar in der Suppe Anderer, sondern schießt selbst "kapitale Böcke". So etwa, wenn man (S. 125-126) mutmaßt, dass es sich bei qualmenden Papierresten in der Synagoge um verbrannte Archivalien oder Thorarollen gehandelt habe.

Abgesehen davon, dass die Registratur der Kultusgemeinde wohl (wie andernorts) im Hause des Vorsitzenden (Devries) aufbewahrt worden sein dürfte: Wenigstens Teile derselben sind an das Reichssippenamt gelangt (Repros im Personenstandsarchiv Westfalen-Lippe), denn sonst hätte B. Brilling 1962 wohl kaum seinen Aufsatz (S. 41-48) schreiben können, der ein Element des früheren Gemeindearchivs zur Grundlage hat.

Auch Kapitel VIII (Berthold Fahrendorf-Heeren) ist leider nicht frei von Mängeln: Warum hier ein achtseitiger Rekurs auf das lokale jüdische Schulwesen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. (S. 160-168)? Man mag allenfalls im Sinne Lichtenbergs vermuten, dass da jemand "seine Tinte nicht halten" konnte.

Rätselhaft bleibt auch die mehrfach geäußerte Annahme, dass die historischen Anfänge des örtlichen jüdischen Schulwesens im Jahre 1844 lägen (S. 160, 161, 166), wo doch jüdische Schulmeister in Petershagen bereits seit dem frühen 18. Jh. nachweisbar sind? Warum mag wohl "Qualität und (...) Kontinuität" des jüdischen Elementarschul-Unterrichts in Petershagen ausgerechnet ein so dringendes Anliegen für den ortsansässigen Mediziner und Dissidenten Dr. M. Oppenheim gewesen sein (S. 165-166), der seine drei Kinder evangelisch taufen ließ?

Der kühne Rückschluss, dass ein jüdisches Schuhgeschäft aufgrund seiner großen und auffälligen Zeitungsinserate "eines der florierendsten Unternehmen am Ort" gewesen sei (S. 171), macht den Leser vor Staunen gänzlich sprachlos. Wie der Bankier Moritz Lindemeyer zum "Leiter der städtischen Sparkasse" (S. 173) werden konnte, obwohl er nach Aussage amtlicher Quellen langjähriges Aufsichtsratsmitglied war, wird auf ewig ein Geheimnis bleiben.

Schließlich noch zum Kapitel IX (Wolfgang Battermann): Mindestens 224 Namen werden - zumeist ohne Rücksicht auf familiäre Bezüge - fein säuberlich in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet: Abzuziehen sind davon aber zahlreiche Mehrfachnennungen, jüdische Kurzbesucher sowie reine Phantasie- Schöpfungen aus offenbar falsch gelesenen Namen.

Ungefüge Reihung von Namen

Hinzuzählen müsste man jedoch eine ganze Reihe von Personen, die schlichtweg nicht ermittelt wurden: Es ergeben sich nach dem jetzigen Stand der Kontrolle (anhand systematischer genealogischer Übersichten) rund 55 jüdische Menschen, die allesamt seit 1900 im Bereich der heutigen Stadt Petershagen lebten. Kurzum: Eine - trotz Fehlervorbehalts (S. 181) - ungefüge Reihung von Namen, zusammengesucht aus zahlreichen Listen unterschiedlicher Genese und Aussagefähigkeit: Erkenntniswert mehr als gering.

Was den vorliegenden Band nun allerdings (nach Verlautbarung der AG Alte Synagoge) in den Rang einer "wertvollen Hilfe für die Führungen in der Synagoge" erheben mag, wissen allein die Götter und ein umtriebiges Autoren-Kollektiv im ostwestfälischen Oesper-Athen.

Dr. Bernd-Wilhelm Linnemeier ist Landeshistoriker in Münster und stammt aus Schlüsselburg.


mt@mt-online.de

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