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Lippische Landes-Zeitung , 23.04.2004 :

Ein Mann im Geflecht der Stadtelite / Das Interview mit Hanne und Klaus Pohlmann - Letzter Teil der Gräfer-Reihe

Lemgo. Wie ist die Rolle Wilhelm Gräfers in Lemgo zu bewerten? Diese Frage soll am Ende unserer vierteiligen Reihe über das Schicksal des Lemgoer Bürgermeisters stehen, der 1945 ermordet wurde. LZ-Redakteur Thorsten Engelhardt befragte dazu die Historiker Hanne und Klaus Pohlmann aus Lemgo.

Die beiden Geschichtslehrer im Ruhestand haben sich in mehreren Veröffentlichungen mit der Geschichte der Stadt und Lippes zur NS-Zeit sowie mit der Verfolgung der Juden auseinander gesetzt, sie sind unter anderem Herausgeber der Lebensgeschichte von Karla Raveh und Autoren des Buches "Kontinuität und Bruch, Nationalsozialismus und die Kleinstadt Lemgo", erschienen in der Reihe Forum Lemgo.

LZ: Wilhelm Gräfer ist nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst als eine Art Märtyrer für Lemgo verklärt und dann in den 70er-/80er-Jahren vom Sockel gestoßen worden. Was war er, zu allen Opfern bereiter Stadtvater oder opportunistischer Nazi?
Klaus Pohlmann: Keins von beiden. Mit der Märtyrer-Rolle hat er eine Funktion übernehmen können, die eine Art der Selbstreinigung des städtischen Umfeldes von der Nazi-Zeit darstellte. Das war die besondere Funktion der Figur Gräfer in der Nachkriegsphase. Sein Schicksal war für alle Angehörigen der städtischen Elite eine Entlastung. Diese Einbindung in das soziale Geflecht der städtischen Führungsschicht muss man bei der Bewertung der Person bedenken. Die Alternativstellung Nazi oder Held ist daher zu einfach.

LZ: Wie bewerten Sie Gräfers Verhalten während des "Dritten Reiches"?
Hanne Pohlmann: Es gibt eine Episode, die darauf ein Licht wirft. 1936 traf sich eine Jagdgesellschaft mit Gräfer in einem Waldlokal. Im Gespräch kam die Rede auf die Lemgoer Juden und ihren Anteil an den Opfern des Ersten Weltkriegs. Ein Kaufmann sagte, die Juden hätten einen prozentual höheren Anteil an Gefallenen als andere. Für damalige Verhältnisse eine sehr "judenfreundliche" Äußerung. Die wurde aber von einem auswärtigen SA-Mann gehört, der die Sache vor die Kreisleitung brachte. Wir haben die Protokolle der Verhöre, in der alle Beteiligten die "Judenfreundlichkeit" herunter spielen. Gräfer gibt eine schriftliche Erklärung ab, in der er seinen Antisemitismus damit belegt, dass er schon als Student eine antisemitische Zeitschrift abonniert habe. Man muss das im Kontext sehen: Innerhalb der Elite wird anders gesprochen als nach außen.

LZ: Also war er jemand, der sein Fähnchen nach dem Wind hängte?
Klaus Pohlmann: Ja, das hat er. Doch die alten Lemgoer verstanden sich damals vielfach als national-konservativ, da gab es Überschneidungen mit den Nazis, wenn man sich auch selbst nicht dafür hielt. Das Selbstverständnis der städtischen Führungsschicht muss berücksichtigt werden.

LZ: Wie ist Gräfers Verhalten gegenüber der jüdischen Bevölkerung einzuschätzen?
Klaus Pohlmann: Auch hier zeigt sich das wieder. Der jüdischen Frau Lenzberg, die ebenfalls zur alten Stadtelite zählte, wurden keine Bewohner ins Haus gewiesen, wohingegen die Frenkels mit 14 Personen in einem Haus wohnen mussten. Der Familie Sternheim hat Gräfer sogar geraten wegzuziehen.

LZ: Also hat Gräfer ein sehr ambivalentes Verhalten gezeigt?
Klaus Pohlmann: Ja. Dabei hat er es vor allem vermieden, seine eigene Position zu gefährden und selbst in ernsthafte Schwierigkeiten zu geraten.

LZ: Aber damit hat er ja im Grunde so gehandelt wie etliche andere auch.
Hanne Pohlmann: Ja, aber er war natürlich ein Funktionsträger, nicht irgendwer. Insofern ist das anders zu bewerten. Es gibt auch Beispiele von Bürgermeistern, die zurückgetreten sind. Andere, wie der Detmolder Dr. Peters, haben sich umgebracht.

LZ: Wie weit hat Gräfer selbstständig NS-Gedankengut umgesetzt?
Klaus Pohlmann: Er hat es umgesetzt, aber die Frage ist, wie weit hat er Freiräume dabei genutzt? Da muss man sich die Einzelfälle ansehen.

LZ: Was hat Wilhelm Gräfer Ihrer Meinung nach dazu veranlasst, mit den Amerikanern in Verhandlungen zu treten?
Hanne Pohlmann: Ich denke, er hat die Sinnlosigkeit einer Verteidigung erkannt.

LZ: War das eine Tat in einer Ausnahmesituation?
Klaus Pohlmann: Ja, das war es wohl. Aber darüber lässt sich nur spekulieren, es gibt ja keine Zeugnisse davon.

LZ: Ist die Diskussion um den Bürgermeister Gräfer noch in der Stadt präsent oder längst abgehakt?
Klaus Pohlmann: Gegenwärtig wird dieses Thema nicht mehr öffentlich diskutiert. Offenbar hat man sich stillschweigend darauf geeinigt, diesen Zustand der Nicht-Diskussion beizubehalten.

LZ: Wie sollte Lemgo denn mit Gräfer umgehen, beispielsweise wenn man an die Benennung der Schule denkt?
Klaus Pohlmann: Eine Art Bilderstürmerei ist unhistorisch. Denn die Schulbenennung ist ja Ausdruck einer Zeit, in der Gräfer allein als Retter der Stadt gesehen wurde. Eine Umbenennung würde die Hintergründe dieser Zeit unter den Teppich kehren.
Hanne Pohlmann: Doch dieser historischen Person, ihrer Rolle und ihrer Zeit muss aktiv und in einer schonungslos offnen Diskussion gegenüber getreten werden mit der Frage: Wie konnte das möglich sein? Dazu gehört auch die Diskussion über die Zeit, in der die Schule so benannt wurde. Als Denkanstoß und Diskussionsansatz sollte der Name beibehalten werden. Das ist unserer Meinung nach der richtige Weg.

LZ: Wie schätzen Sie die Erinnerungskultur zum Nationalsozialismus in Lemgo heute ein?
Hanne Pohlmann: Im Grunde lassen sich immer wieder die besonders informieren, die ohnehin schon Bescheid wissen.
Klaus Pohlmann: Die "alten Lemgoer" sind da eher wenig vertreten, wobei ich nicht weiß, wie sehr die Beschäftigung mit der NS-Zeit in der Breite verankert ist. Die Stadt selbst ist in der Hinsicht sehr aktiv, was allein schon die umfangreiche Internetpräsenz zu den Gedenkstätten zeigt.

Anmerkung von www.hiergeblieben.de: Teil 1: "Ein Tag im April / Wilhelm Gräfer und das Kriegsende in Lemgo 1945 - Zeitzeuge Herbert Lüpke erinnert sich" und Teil 2: "Das letzte Geleit / Die letzten Stunden des Lemgoer Bürgermeisters Wilhelm Gräfer im April 1945" sowie Teil 3: "Ein brüchiges Denkmal / Die Kontroverse um Bürgermeister Gräfer" erschienen am 03., 08. und 17. April 2004 in der Lippischen Landes-Zeitung und sind auf dieser Hompage ebenfalls dokumentiert.


Lemgo@lz-online.de

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