Bielefelder Flüchtlingsrat ,
20.04.2004 :
Kundgebung auf dem Jahnplatz am Samstag, den 24.04.04, 11 Uhr
Gestern wurde der 19-jährige Anzor I. aus dem Kreis Minden Lübbecke nach Moskau abgeschoben. Die 25-jährige Malika A. aus dem Kreis Gütersloh sitzt seit Wochen in Abschiebehaft in Neuss. Der 24-jährige Khasim S. aus Herford bekam nach der Ablehnung seines Asylantrages nur eine Grenzübertrittsbescheinigung ausgehändigt. Aus Angst vor seiner Festnahme und Abschiebung wagte er sich nicht mehr zur Ausländerbehörde, um die Bescheinigung zu verlängern.
Es leben schätzungsweise 200 TschetschenInnen in Ostwestfalen. Unter ihnen sind viele Kinder und Frauen, die dringend ein Leben in Sicherheit bräuchten, um ein neues Leben, jenseits ihrer leidvollen Erlebnisse, beginnen zu können. Drohende Abschiebungen verstärken die quälende Angst, die sie aus dem Krieg, den Razzien, infolge der erlebten Gewalt mitgebracht haben.
Der 33-jährige Musa M. aus dem Landkreis Cloppenburg nahm sich am 4. März 2004 das Leben. Bei der Antragstellung berichtete er von seiner Festnahme und brutalen Verhören. Verwandte konnten ihn freikaufen. Das Bundesamt begründete die Ablehnung seines Antrages unter anderem damit, es könne dahingestellt bleiben, ob die Angaben zur Inhaftierung glaubhaft seien, denn eine politische Verfolgung ließe sich „bereits deshalb nicht daraus entnehmen, weil insoweit eine Amnestie ergangen ist, er freigelassen wurde und selbst angegeben hat, dass er deswegen nicht noch einmal offiziell ins Gefängnis kommen würde".
Bei den Festnahmen von Tschetschenen handelt es sich oft nicht um "offizielle Festnahmen". Für die Betroffenen gibt es kein rechtsstaatliches Verfahren, keine offizielle Anklage. Tschetschenen sind für viele quer durch die russische Gesellschaft generell Terroristen und Verbrecher. Unmittelbar nach dem Bombenattentat in der Moskauer Metro im Februar - niemand wusste, wer die Attentäter sind - bezeichnete der russische Präsident Putin tschetschenische Terroristen als Urheber und erklärte: "Russland verhandelt nicht mit Terroristen. Es vernichtet sie."
Im März 2004 schrieb amnesty international über die Situation von TschetschenInnen im Fall ihrer Rückkehr in die Russische Föderation:
"Durch die Verbindung einer anti-tschetschenischen Feindseligkeit in der russischen Gesellschaft mit offiziellen Erklärungen russischer Politiker und Handlungsweisen der Sicherheitskräfte haben tschetschenische Volkszugehörige den Status einer ethnischen Gruppe erhalten, die außerhalb des Schutzes durch das Gesetz steht und Opfer von Verfolgung, Erpressung und staatlicher Willkür wird. Durch eine restriktive und diskriminierende Anwendung des Registrierungssystems (propiska) wird ihnen in der Russischen Föderation vielerorts der legale Aufenthalt versagt. Durch eine polizeiliche Praxis, die oftmals Menschen allein aufgrund ihres Erscheinungsbildes gezielt ins Visier nimmt, sind Tschetschenen staatlicher Willkür in besonderem Maße ausgesetzt. Ihre Personalpapiere werden unverhältnismäßig häufiger auf eine ordnungsgemäße Anmeldung hin überprüft. Dabei kommt es nicht selten zu tätlichen Übergriffen oder anderen Einschüchterungsversuchen durch die Polizei. Die betroffenen Personen werden genötigt, Bestechungsgelder zu zahlen, um weiteren Schikanen zu entgehen. Darüber hinaus erhält unsere Organisation Informationen über Wohnungsdurchsuchungen aus rassistischen Gründen. Im Zuge der genannten Kontrollen laufen tschetschenische Volkszugehörige Gefahr, willkürlich inhaftiert zu werden. Oft werden sie von der Polizei automatisch als potentielle Strafverdächtige betrachtet. Im russischen Polizeigewahrsam ist der in Frage stehende Personenkreis zudem leicht gefährdet, Opfer von Folter und Misshandlungen zu werden."
Es ist bekannt, dass insbesondere junge tschetschenische Männer in das Visier russischer Sicherheitskräfte geraten. In der gegenwärtigen Rechtssprechung des Verwaltungsgerichts in Minden erhalten jedoch nur die TschetschenInnen Asyl, die eine bereits erlittene Verfolgung oder ein konkret auf ihre Person bezogenes Verfolgungsinteresse des russischen Staates glaubhaft machen können. Viele scheitern an diesem Maßstab. Sie sind geflohen, bevor sie mitgenommen und misshandelt wurden. Sie können nicht erklären, warum russische Sicherheitskräfte genau sie mitnehmen sollten. Denn viele Festnahmen sind Willkür. Sie erfinden daher Geschichten in der verzweifelten Hoffnung, dem Maßstab unserer Rechtssprechung zu genügen.
In einigen Familien wurde aufgrund Kriterien nur der Vater als politisch Verfolgter anerkannt, während seine Frau und die Kinder eine Ablehnung mit Abschiebungsandrohung erhielten.
Im ersten Artikel der Genfer Flüchtlingskonvention heißt es, Asyl solle erhalten, wer aus "begründeter Furcht vor Verfolgung" aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe flieht.
Laut Auskunft des Auswärtigen Amtes besteht in Schweden und Finnland bereits ein Abschiebestopp, während viele andere europäische Staaten in der Praxis keine oder kaum Tschetschenen nach Russland zurückführen. amnesty international fordert, von einer zwangsweisen Rückführung tschetschenischer Flüchtlinge in die Russische Föderation abzusehen. Ein bundesweiter Abschiebestopp für tschetschenische Flüchtlinge ist dringend geboten. Wir appellieren an alle Verantwortlichen, bereits geplante Rückführungen auszusetzen.
Am Samstag, den 24. April, ab 11 Uhr möchten TschetschenInnen aus Ostwestfalen mit einer Kundgebung auf dem Jahnplatz in Bielefeld auf ihr Schicksal, auf den Krieg in Tschetschenien, die Verfolgung von TschetschenInnen in Russland und die drohenden Abschiebungen aufmerksam machen.
An dem Samstag werden Unterschriften für ein offenes Schreiben an verantwortliche Stellen in Deutschland mit dem Ziel gesammelt, dass sich die Verantwortlichen für eine friedliche Lösung in Tschetschenien und gegen die Abschiebung von TschetschenInnen einsetzen.
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