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Mindener Tageblatt , 21.04.2004 :

Ein Nazi-Arzt kam auch aus Minden / Ausstellung zur Euthanasie in der Martinikirche eröffnet / Fachvortrag von Ernst Klee

Von Serhat Ünaldi

Minden (mt). Ein Spatz hat im Verhältnis zu seinem Körper das größte Gehirn. Zur Kolonialzeit aber waren es die Hirne des weißen Mannes, die bei wissenschaftlichen Untersuchungen am Besten abschnitten. Deshalb, so die damalige Begründung, müsse der Weiße über den Schwarzen herrschen.

"Die Wissenschaft hat sich lange vor den Nazis in den Dienst der Politik gestellt", betonte der Frankfurter Historiker Ernst Klee bei seiner Eröffnungsrede zur Ausstellung "Lebensunwert - zerstörte Leben". Die ist derzeit in der Martinikirche zu sehen und beschäftigt sich mit den Schrecken der Euthanasie und der Zwangssterilisation im Dritten Reich.

Dabei wurden Behinderte und Kranke, Ausländer und Homosexuelle von Medizin und Politik als lebensunwert abgestempelt und getötet. Die Vererbung "minderwertiger Gene" sollte mit dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" verhindert werden. 300 000 Menschen starben, knapp 400 000 wurden sterilisiert. Schautafeln und Lebensläufe veranschaulichen die Gräueltaten. Organisiert wurde die Ausstellung von der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und der Aktionsgemeinschaft Friedenswoche.

Klee verwies darauf, dass die Deutschen mit ihren Ansichten nicht allein standen. "Schon Jahrzehnte haben Mediziner in Kolonialstaaten Gehirne von Männern, Frauen, Schimpansen und Schwarzen gegeneinander abgewogen. Der weiße Mann war immer der mit dem schwersten Gehirn. Das war die Legitimation für die europäische Expansionspolitik."

Rassenhygiene sei auch in den USA ein Thema gewesen. "1904 gab es dort das erste Gesetz zur Sterilisation. Damals beneideten die deutschen Mediziner die Amerikaner. Auch in Schweden wurden Sterilisationen durchgeführt. Aber die spätere Radikalität der Deutschen ist unübertroffen. Ab 1933 wurden wir plötzlich von anderen Nationen beneidet", erklärte Klee.

Zu den ersten Ermordeten zählten 1933 rund 1400 Kranke aus Pommern. "Sie wurden in einen Wald geführt um dort ihre Gräber auszuheben vor denen sie einzeln erschossen wurden", so der Experte Ernst Klee. 1941 sei nach neuen Tötungsmethoden gesucht worden, "um die Gefühle der Schützen zu schonen. Russische Geisteskranke, die ermordet werden sollten, weinten und schrien vor ihrer Hinrichtung. Zuerst hat man es damit versucht, die Opfer in eine Hütte zu sperren und diese in die Luft zu jagen. Aber davon wurde abgesehen, weil danach überall Leichenteile herumlagen. Dann wurden die Kranken in einen LKW gesperrt und mit dessen Abgasen getötet. Einer der dieses Verfahren mitentwickelt hat, ist nach dem Krieg Chef des Landeskriminalamtes Bremen geworden", sagte Klee.

Unbegreifliche Fakten wie diese konnte der Experte, der sich seit 25 Jahren mit dem Thema beschäftigt, zahllos zitieren. Er berichtete von Ärzten, die ohne Habilitation von Hitler zum Professor ernannt wurden und diesen Titel zeitlebens nicht aberkannt bekamen. In dem von Klee verfassten Personenregister des Dritten Reichs sind allein sechs spätere LKA-Chefs aufgeführt. Zahllose Euthanasie-Ärzte gelangten später zu Weltruhm.

Mindener stirbt im Zuchthaus

"Werner Villinger, Versuchsarzt in Bethel, hat während und nach dem Krieg hohe Ämter inne und behauptet im Entnazifizierungs-Verfahren, sich für die Juden eingesetzt zu haben. Er war schon vor den Nazis ein unerbittlicher Kämpfer und behauptete, dass Armut erblich ist." Als Gutachter der Euthanasie-Zentrale soll er mehr als 1000 Menschen zur Zwangssterilisation angezeigt haben.

Auch ein Mindener war unter den Euthanasie-Ärzten - jedoch mit weniger Erfolg nach dem Krieg. Ernst Hefter, 1906 in Minden als Sohn eines Oberst geboren, geht als Oberarzt und Gutachter 1939 zu den Wittenauer Heilstätten. 1940 tritt er in die NSDAP ein, ist Richter am Erbgesundheitsgericht und ist bis 1945 als Leiter der Kinderfachabteilung in Berlin-Wittenau tätig. "Ein Tarnwort für Mordabteilung", erklärt Klee. Hefter stirbt 1947 im Zuchthaus Bautzen.

Die Ausstellung ist noch bis zum 9. Mai täglich, außer montags, zu besuchen. Am 27. April wird um 19.30 Uhr zudem im Kleinen Theater der VHS ein Spielfilm zum Thema gezeigt mit dem Titel: "Ich klage an". Am 5. Mai referiert die Journalistin Erika Feyerabend um 19.30 Uhr zum Thema "Tödliche Dienstleistung" und zeigt heutige Tendenzen im Gesundheitswesen auf.


mt@mt-online.de

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