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Lippische Landes-Zeitung , 20.04.2004 :

Politik ist kein Schachspiel / Kurt Müller las im Hansen-Haus

Lage (ans). Sie hatte Goethe gelesen, als sie verhaftet wurde am 5. August 1919, und der Hauptmann, der dem Fräulein Luxemburg im Hotel Eden in Berlin mitteilte, dass sie erneut verhaftet sei, wunderte sich darüber, dass eine solche "Judensau" Deutschlands großen Dichter lese. So beginnt eine der Geschichten, mit denen der Schriftsteller Kurt Müller deutlich macht, dass Politik kein Schachspiel ist. Der Lipper las im Heinrich-Hansen-Haus.

Rosa Luxemburg wird das Gefängnis niemals betreten. Noch auf dem Weg dahin wird sie von einem "Trittbrettfahrer", der aus der Menge auf das offene Militärfahrzeug springt, erschossen und dann in den Landwehrkanal geworfen. Ein abgekartetes Spiel, ein klarer Mord, für den niemand je zur Verantwortung gezogen wird. In seiner Mischung aus nüchtern scheinendem Bericht und den darin aufleuchtenden knappen Dialogen gelingt es Müller, die abstrakte Ebene lebensferner Geschichtsdaten vor dem inneren Auge seiner Leser bzw. Hörer mit Leben zu füllen.

Die letzten Stunden der Rosa Luxemburg war ein Thema, ein anderes die letzten Tage und Stunden des antifaschistischen Journalisten Felix Fechenbach, der ebenfalls einem Fememord im Wald von Bad Kleinem zum Opfer fiel, als er angeblich aus Detmold in das Konzentrationslager Dachau überführt werden sollte.

Wieder gewinnt diese Erzählung ihre ergreifende Qualität aus der Mischung von belegten Einzelheiten und fiktiven Dialogen, die so abgelaufen sein könnten. Etwa die Skepsis der Arztes in Scherfede, der den Totenschein für Fechenbach ausstellen sollte. Der meinte, dass die 20 Einschüsse eher nach Hinrichtung denn nach Erschießen auf der Flucht aussähen.

In diesen Erzählungen wird auch jungen Leuten verständlich, dass Politik kein Schachspiel ist, sondern alle angeht, weil sie ihr Schicksal betrifft.


Lage@lz-online.de

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