Bielefelder Tageblatt (OH) / Neue Westfälische ,
02.06.2008 :
"Als einzige dagegen gestimmt" / SPD-Gedenkstunde: 1933 erhielten die Nazis den Freifahrtschein fürs Grauen
Von Kurt Ehmke
Bielefeld. Zum Schluss gab es Balsam auf geschundene SPD-Seelen: "Wir Sozialdemokraten in Ostwestfalen haben allen Grund, stolz auf unsere Vorgänger zu sein", rief Wilfried Schrammen, lange Geschäftsführer des Unterbezirks, an geschichtsträchtigem Ort seinen Parteifreunden zu. Die hatten sich im ehemaligen "dpa" getroffen. Jenem Haus, in dem bis 1933 die Rotationsmaschine der SPD-Zeitung Volkswacht lief. Die SPD gedachte des Tages, an dem vor 75 Jahren das Ermächtigungsgesetz (s. Hintergrund) beschlossen wurde.
Trotz Umfragetiefs auf Bundesebene bemühte sich auch Marlies Pelster-Wend, stellvertretende SPD-Chefin in OWL, Mut zu machen: "Klar, wir leben nicht in der Enklave, aber wir können uns noch sehen lassen, wir stellen fast 30 Bürgermeister in der Region." Dass es bald mehr werden, hofft sie, und begrüßte Pit Clausen, Kandidat in Bielefeld. Und schlug nach mehreren Vorträgen die Brücke vom Damals zum Heute, erinnerte an die letzte Stadtvorsteherwahl in Bielefeld, wo die SPD ihren Kandidaten nicht durchsetzen konnte, weil die KPD sich enthielt, blickt auf die Kommunalwahl 2009 und sagte: "Ich wünsche dir, dass du keinen Gegenkandidaten aus dem nichtbürgerlichen Lager haben wirst, entschieden ist das ja noch nicht." Ein Satz, der sich auf Überlegungen der Grünen und der Linken bezog, die über eigene OB-Kandidaten nachdenken.
Zwischen diesen Blicken Richtung Zukunft lagen intensive Blicke zurück, auf jene Zeit, als Nazis in Deutschland die Macht an sich rissen, auch, weil konservative und bürgerliche Parteien ihnen wenig entgegensetzten, KPD und SPD ihre eigenen und letztlich erfolglosen Wege des Widerstands gingen.
SPD-Schatzmeistern Dr. Barbara Hendricks war nach Bielefeld gekommen, erinnerte an die Anfänge des Hauses an der Arndtstraße, das auf einem von Karl Eilers am 2. März 1908 gekauften Grundstück steht – Karl Eilers, Großvater von Elfriede Eilers, der großen alten Dame der Bielefelder Sozialdemokratie. Gut vier Jahre später wurde das Gebäude eingeweiht, das bis heute von sozialdemokratischen Aktivitäten geprägt wird.
"Uns nicht belehren"
Im Februar und März 1933 schlossen die Nazis die Redaktion und die Druckerei der Volkswacht, beide im Gebäude ansässig – wie auch die SPD und Gewerkschaften. Heute nutzt die Partei weite Teile des Objekts. Hendricks: "Das Haus an der Arndtstraße ist der steinern gewordene Wille der Arbeiterbewegung, die Welt zu verändern."
Historikerin Dr. Daniela Münkel und Wilfried Schrammen führten den gut 100 versammelten Sozialdemokraten in ihren Vorträgen die Entwicklungen rund um den 23. März 1933 vor Augen. Jenem Tag, an dem das Ermächtigungsgesetz beschlossen wurde. Münkels Fazit: "Die Entwicklung war nicht zwangsläufig." Am Tag der Abstimmung sei aber alles zu spät gewesen, sei das Nein der SPD nur noch eine "patriotische Tat" gewesen. Zuvor hätten insbesondere konservative, bürgerliche und kirchliche Kräfte im politischen Handeln den Aufstieg Hitlers verhindern können.
Schrammen zeigte anhand diverser Wahlergebnisse auf, wie rot Bielefeld damals war: "Bielefeld war kein gutes Pflaster für die NSDAP." Trotzdem reichte auch das nicht, "auch wir waren damals auf diese Situation und diese Entwicklung überhaupt nicht vorbereitet und es gab auch bei der SPD die unterschwellige Haltung 'Soll der Hitler erstmal machen, das gibt sich schon.'" Schuld sei daraus aber wohl nicht abzuleiten. Hendricks: "Wir müssen uns von den so genannten bürgerlichen Parteien nicht belehren lassen, unsere Mitglieder sind im Kampf um die Demokratie eingesperrt, gefoltert und getötet worden." Und weiter: "Wir haben als einzige gegen die Ermächtigungsgesetze gestimmt."
Das Ermächtigungsgesetz
Als am 23. März 1933 das Ermächtigungsgesetz genannte "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" beschlossen wurde, stimmten für die SPD 94 Abgeordnete dagegen, darunter die beiden Bielefelder Carl Schreck und Carl Severing – 26 Sozialdemokraten hatten bereits keine Chance mehr, mit abzustimmen. Die 81 KPD-Parlamentarier waren nicht mehr zur Abstimmung geladen und überwiegend inhaftiert worden – Schutzhaft genannt. Auf dem Weg zur Abstimmung mussten die verbliebenen Nicht-Nazis durch ein Spalier von Nazis laufen, Teil der Einschüchterungstaktik vor der Abstimmung, der Hitler selbst eine Scheinformalität zusprach, sagt Historikerin Dr. Daniela Münkel.
Das Gesetz erlaubte den Nationalsozialisten, die Demokratie endgültig aus den Angeln zu heben. Es wurde 1937 und 1939 durch den Reichstag und 1943 per Führererlass verlängert. Die Regierung erhielt die Befugnis zur Gesetzgebung, einschließlich verfassungsändernder Gesetze, übertragen. Das Parlament war außen vor, auch bei völkerrechtlichen Verträgen. Die Diktatur wurde Realität.
Bildunterschrift: An historischem Ort: Marlies Pelster-Wend, Daniela Münkel, Pit Clausen, SPD-Schatzmeisterin Dr. Barbara Hendricks, Elfriede Eilers und Wilfried Schrammen im Gebäude Arndtstraße 6.
lok-red.bielefeld@neue-westfaelische.de
|